Ableismus
Siegfried Heinz Xaver Saerberg
Ableismus ist eine Übertragung des englischen Begriffs Ableism ins Deutsche bzw. ins lateinifizierte Deutsche. Er geht zurück auf das Wort to be able, das im Englischen etwas können, befähigt sein bzw. eine bestimmte Fähigkeit zu haben oder grundsätzlich befähigt zu sein meint. Der Begriff wurde innerhalb der Disability Studies entwickelt. Er ist ähnlich angelegt wie die Begriffe Sexismus oder Rassismus und verschafft somit der theoretischen Reflexion auf gesellschaftliche Benachteiligung und Diskriminierung ein weiteres analytisches Werkzeug (Waldschmidt/Schillmeier 2022)). Andere Ältere Versuche, soziale Benachteiligung und Diskriminierung im Zusammenhang mit Behinderung begrifflich zu fassen waren disablement, disablism und disableism. Inzwischen kanonisch ist die Definition, welche die australische Aktivistin und Theoretikerin Fiona Kumari Campbell (2009) in ihrem Buch Contours of Ableism im Jahre 2009 gegeben hat:
Ableismus ist demnach ein Netzwerk von Überzeugungen, Prozessen und Praktiken. Sie ordnen bestimmten Individuen und Personengruppen auf einem Kontinuum bestimmte Fähigkeiten zu. Genauso sprechen sie bestimmten Personengruppen Fähigkeiten ab. Zu- bzw. Absprechen von Fähigkeiten ist stets mit einer Wertsteigerung resp. einer Wertminderung verbunden (Maskos, 2015). Ein Vorgänger im Deutschen war der heute im Übrigen immer noch verwendete Begriff Behindertenfeindlichkeit. Einen Anschluss an die Vorläufer-Diskurse von Behindertenfeindlichkeit suchen Maskos und Köbsel in einem normativ-politischen Ansatz. Auf die feinen Unterschiede zwischen diesen zwei Begriffen werde ich weiter unten noch eingehen.
Die Entwertung durch Ableismus kann dramatisch und auch subtil sein: Köbsell (2015) weist Ableismus in der pränatalen Diagnostik nach, die über das Recht zu Leben entscheidet.
Der Begriff des Ableismus entfaltet in den Disability Studies sein gesellschaftskritisches Potential: Die von Campbell angesprochenen, miteinander verknäulten Überzeugungen, Prozesse und Praktiken sind gesellschaftlich verankert und üben auf Organisationen und Individuen Druck aus, diese an sich selbst und anderen zu erfüllen. Dadurch konstruieren sie eine besondere Art von Selbst und Körper, die vom Normalen bis hin zum Perfekten reichen. Sie werden im kollektiven wie subjektiven Bewussten wie Unbewussten als wesenhaft für den Menschen betrachtet, d. h. sie werden als essentialistisch und biologistisch aufgefasst. Behinderung ist dabei in der Ursprungsdefinition stark mit Unfähigkeit assoziiert und wird der Normalität entgegengesetzt, welche einen weiten Spielraum zwischen durchschnittlichen bis perfekten Fähigkeiten aufweist. Weiterhin problematisch an Ableismus ist, dass er durch die Zuordnung von Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten zu bestimmten Personengruppen dazu führt, dass Mitgliedern dieser Personengruppen erst gar nicht die Möglichkeit gegeben wird, solche Fähigkeiten in der einen oder anderen Weise herauszubilden. Besonders tückisch ist, dass Ableismus oftmals subtil und verdeckt wirkt und vielen Menschen gar nicht bewusst ist. Auch nicht-behinderte Menschen, die nichts Schlechtes über behinderte Menschen denken möchten oder ihnen sogar wohlgesonnen sind, können so unbewusst ableistischen Klischees anhängen. Somit kann der Begriff Ableismus auch subtile, verborgene und unreflektierte negative Einstellungen, Vorgänge und Handlungsweisen gegenüber Behinderung aufdecken. Hier liegt ein großer Unterschied zu Behindertenfeindlichkeit, welche bewusst negative Einstellungen zu Menschen mit Behinderungen pflegt. Es empfiehlt sich aber, an beiden Begriffen festzuhalten, da der Begriff Behindertenfeindlichkeit offenkundige Diskriminierungen adressieren kann, wie sie etwa in Parteiprogrammen gewisser Parteien und in Äußerungen deren Protagonist*innen in den letzten Jahren wieder virulent geworden sind. Im vorher angeführten Beispiel der Prädiagnostik wäre m. E. darüber nachzudenken, ob in diesem Fall nicht sogar von einer Kombination aus Ableismus und Behindertenfeindlichkeit zu sprechen wäre.
Noch weiter geht die Verwendung, die Dan Goodley (2014 und 2017) dem Begriff im Zusammenhang mit einer Kritik am repressiven Charakter des neoliberalen Kapitalismus gegeben hat. Ihm zufolge ist Ableismus eine übersteigerte Idealisierung dreier Elemente: Leistungsfähigkeit, Unabhängigkeit und Autonomie. Diese Trias bestimme die Verwertbarkeit einer Person als Humankapital innerhalb des kapitalistischen-neoliberalen Produktionsregimes. Führte dies in noch eher traditionell ausgerichteten Formen des Kapitalismus zum Ausschluss gegenüber Behinderung und Menschen mit Behinderung, so fordert der moderne, neoliberale Kapitalismus angesichts herrschenden Fachkräftemangels inzwischen einen Einschluss solcher behinderter Subjekte, welche die Leistungsansprüche zu erfüllen wissen. Im Gegensatz dazu versucht Gregor Wolbring 2008) ability (Fähigkeiten) neutral zu formulieren und inauguriert die vom ihm titulierten ability-studies. Im deutschsprachigen Diskurs wird dieser Vorschlag von Buchner et al. (2015) übernommen. Es ist durchaus denkbar, dass im anglo-amerikanischen Diskursraum in Zukunft eine Neuschöpfung an die Seite von Ableism tritt, die als Dis(/ableism durch den Schrägstrich zwischen der Vorsilbe und dem Hauptwort die Verschränkung zwischen Fähigkeits- und Unfähigkeitszuweisungen ausdrücken soll. Denn Behinderung und Nicht-Behinderung definieren sich immer wechselseitig.
Marianne Pieper fasst Ableismus in einem intersektionellen Zusammenhang mit anderen Benachteiligungskategorien wie Gender, Klasse oder Rasse auf und spricht von einem Konzept der Assemblage. Behinderung taucht gerne in Kombination mit solchen anderen Benachteiligungskategorien auf. Viele Studien weisen auf einen starken Zusammenhang zwischen einer Verschränkung von institutionalisiertem Rassismus und Ableismus hin (Pieper 2022).
So sinnvoll die Begriffe Ableismus und Behindertenfeindlichkeit im politischen Bereich sind, so verzwickt wird deren Einsatz in der kulturellen Dimension. Saerberg (2010) hat in einer mit Einzelinterpretationen abgestützten, motivgeschichtlichen Studie über den so genannten trivialen Frauenroman (Arzt-, Fürsten-, Adels- und Bergroman) gezeigt, dass Blindheit immer als eine Mischung aus Fähigkeiten und Unfähigkeiten auftritt. Zudem ist Blindheit im Sinne von Pieprs Assemblage stark mit der Kategorie Gender kombiniert. Blindheit wird hier im Sinne von Mitchell und Snyder stets als metaphorische Krücke oder Prothese anschaulich und sinnlich verankert dargestellt:
„Ist doch jemand hier?' Dita richtete sich auf und griff mit den Händen in die Luft. ,Mathias? Mathias, wo bin ich?' Panische Angst zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Der Mann schloß sie in die Arme." (Berg 1970)
Blindheit wird also sichtbar gemacht durch Verhalten, das eine sozial als sensuell unangemessen gedeutete Pragmatik einsetzt und somit stark als ableistisch gekennzeichnet ist.
Andererseits wird den blinden Protagonistinnen auch ein großer Bereich an Fähigkeiten zugeschrieben, der mit dem liebenden Blick, der ins Innere der Menschen sehen kann, verbunden ist. Somit ist Blindheit in diesem Genre eine notwendige Prothese, um innerhalb visueller Metaphorik als Herzenssehen — das Modell des Sehens sowohl erfüllend als auch überschreitend — zu thematisieren. Damit rückt Blindheit im trivialen Frauenroman von der Peripherie ins Zentrum des „humanen Blicks", wenn es um Fragen eines literarischen Entwurfs von prosozialen und moralischen Handeln geht. Wer liebt und sehen kann, der teilt seine Augen mit der blinden Geliebten:
„Ich habe zwei sehr klare Augen, Liebste. Von diesem Augenblick an gehören sie dir — für immer." (Holger, 1967)
Die, die dagegen nicht sehen kann, sieht mit dem Herzen. Anscheinend lassen sich in diesem Genre nicht alle Lebenserfahrungen in einer visuell dominierten Kultur mit Hilfe visueller Metaphern anschaulich machen. Eine Prothese wird nötig. Angesichts der zunehmenden Visualisierung seit der Aufklärung drückt sich hierin ein Bestreben aus, einen Bereich der Privatheit und Intimität aus dem Visualisierungszwang" herauszunehmen und mit einer Eigengesetzlichkeit auszustatten. Eine Eigengesetzlichkeit allerdings, die nicht konträr zur Visualität gedacht ist, sondern eher komplementär auftritt. Daher greift auch Tasten, Fühlen und Hören nicht die Dominanz des Sehens an und daher sind auch die blinden Protagonistinnen nicht visuell hässlich, sie fügen sich in die visuellen Ideale der Kultur ein. So strahlen die schönen blinden Frauen eine eigenartig zarte und zerbrechliche Schönheit aus, die sich auch und gerade auf ihre Augen bezieht:
„Das Schönste aber, so dünkte es ihm, waren die Augen, die weit und groß mit einem undeutbaren Blick auf ihm ruhten, ja, die durch ihn hindurchzusehen schienen." (Holger 1967)
Diese Schönheit wird von der ganzen Erscheinung gestützt:
„Leicht und anmutig ging sie und bewegte sich mit einer Sicherheit, die niemand, der die Wahrheit nicht kannte, vermuten ließ, daß Stella Rhodewald blind war. Stella konnte sich in der vertrauten Umgebung vollkommen frei bewegen.“ (Holger 1967)
Die blinde Frau sieht also nicht nur mit dem Herzen, sie ist auch ein außerordentlich schöner Anblick. Und am Ende wird natürlich alles gut und alle Sinne finden wieder zueinander:
„Ja, Vera. Eines Tages wirst du sehen, was du fühlst. Dann wirst du es doppelt fühlen." (von Warden 1972)
Mit einem erweiterten Begriff von Ableismus, der auf das Spannungsverhältnis von Fähigkeiten und Unfähigkeiten reflektiert, lässt sich also durchaus eine Rekonstruktion der Figur von Blindheit in einem bestimmten Literatur-Genre durchführen. Im Sinne von Marianne Pieper ist es wichtig, auf die Assemblage von Blindheit mit anderen Benachteiligungskategorien zu achten. Im Falle von Saerbergs Studie ist dies Gender, inwieweit Rassismus hineinspielt, ist eine spannende Frage, denn alle blinden Figuren in den analysierten Frauenromanen sind weiß. Es ist zu erwarten, dass auch hier eine verborgene Klischee-Struktur lauert, die noch zu heben sein wird und die bei blinden Frauen of colour sich anders darstellen mag.
Führen wir zum Abschluss dieses kleinen Artikels wieder den Bogen von Blindheit zu Behinderung im Allgemeinen zurück: Seit 2022 widmet sich das DFG Netzwerk inklusive Philologie, Literary Disability Studies unter Leitung des Greifswalder Literaturwissenschaftlers Klaus Birnstiel der Frage, wie Behinderung in der Literatur dargestellt wird. Das Netzwerk geht von einer Position aus, die den Disability Studies und damit Ansätzen wie dem Ableismus nahestehen: Behinderung ist alles andere als ein randständiges Phänomen der Literatur: „Die Darstellung und kulturelle Verhandlung von Behinderung hat seit je her Eingang in die Literatur gefunden“. Literatur ist Teil der gesellschaftlichen und kulturellen Selbstverständigung über das Phänomen Behinderung. Literatur bildet Behinderung nicht nur einfach ab, sondern sie prägt, hinterfragt und verändert auch das gesellschaftliche und kulturelle Verständnis von Behinderung. (Netzwerk inklusive Philologie o. J.)
Gegen einen rein motivgeschichtlichen Ansatz, der in der Sammlung eines Motivs wie etwa Blindheit über alle Genres und Zeiten innerhalb der Literatur besteht, profiliert Birnstiel eine narratologische Herangehensweise, die ein elaboriertes theoretisches Instrumentarium „zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Erschließung von Figurationen von Behinderung“ am Einzelfall einer Werkdeutung anwendet: Neben Kernfragen der Narratologie wie z. B. nach dem Wie des Erzählens, wozu etwa die Analyse von sprachlichen Mitteln und der Erzähltechnik gehören, zählt auch die Untersuchung der Funktion und des Zwecks der Auseinandersetzung zu dem Untersuchungshorizont. So kann etwa Blindheit unterschiedliche Funktionen erfüllen, entweder z. B. in der Figur eines Bösewichts abschrecken oder in einer Positiven Darstellung der Identifikation dienen. Des Weiteren wird die Frage nach Kulturellen Denkmustern und Gesellschaftlichen Diskurszusammenhängen gestellt, denn Literatur findet nicht im luftleeren Raum statt. Schließlich wird auch wie in Marianne Piepers Ansatz das Thema der Intersektionalität, also die Überkreuzung mit anderen Benachteiligungsdimensionen gestellt. Insgesamt wird in detaillierten Einzelfallanalysen am literarischen Werk danach gefragt, was mit Behinderung in komplexen Erzählformen gemacht und was mit ihr ausgedrückt wird.
Das Konzept des Ableismus kann hierbei m. E. den sozio-kulturellen Hintergrund einer komplexen Zuschreibung von Fähigkeiten und Unfähigkeiten bilden, vor dem sich das literarische Geschehen abspielt und die Erzählfiguren auftreten. In diesem Sinne kann Ableismus durchaus seinen Platz in einer avancierten narratologischen Interpretation haben. Ableismus darf aber in keinem Fall holzschnittartig und zu stark verallgemeinernd auf literarische Entwürfe und Motive angewendet werden. Immer ist der detaillierte Kontext zu beachten. Denn, wie bereits geschrieben, Behinderung wird in Werken der Literatur nicht nur klischeehaft abgebildet sondern literarische Imagination bietet auch eine Chance, Klischees und Stereotype zu überwinden.
Literatur
Berg, Charlotte (1970): Seine blinde Frau. Kann Dr. Franke sie wirklich verlassen? Bastei- Arzt-Roman (Bergisch Gladbach: Bastei)
Buchner, Tobias, Pfahl, Lisa., & Traue, Barbara (2015). Zur Kritik der Fähigkeiten: Ableism als neue Forschungsperspektive der Disability Studies und ihrer Partner_innen. Zeitschrift für Inklusion, 9(2), o. S. http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/273. Zugegriffen: 28. SEPT. 2024.
Campbell, Fiona Kumari (2009). Contours of ableism: Territories, objects, disability and desire. Palgrave Macmillan.
Goodley, Dan (2014). Disability studies: Theorising disableism and ableism. Routledge.
Goodley, Dan (2017). Disability studies. An interdisciplinary introduction (2. Aufl.). Sage.
Holger, Karin (1967): Die Blinde vom Heidehof. Sie liebte den Mann mit dem Brandmal (Bergisch Gladbach: Bastei)
Köbsell, Swantje (2015). Ableism. Neue Qualität oder „alter Wein“ in neuen Schläuchen? In I. Attia, S. Köbsell, & N. Prasad (Hrsg.), Dominanzkultur Reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen (S. 21–34). transcript.
Maskos, Rebecca (2015). Ableism und das Ideal des autonomen Fähig-Seins in der kapitalistischen Gesellschaft. Zeitschrift für Inklusion, 9(2), o. S. https://www.inklusion-online.net/index.php/ inklusion-online/article/view/277. Zugegriffen: 18. September 2024.
Mitchell, David / Snyder, Sharon: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse (Ann Arbor: U of Michigan 2000)
Netzwerk inklusive Philologie (o. J.): https://germanistik.uni-greifswald.de/institut/arbeitsbereiche/neuere-deutsche-literatur/dfg-netzwerk-inklusive-philologie-literary-disability-studies-im-deutschsprachigen-raum/
Pieper, Marianne (2022): Disability Studies in der Migrationsgesellschaft. In: Waldschmidt, A. (eds.): Handbuch Disability Studies. Wiesbaden: Springer, S. 375-400.
Saerberg, Siegfried (2010): Schöne blinde Geigerinnen und mürrische blinde Bauern. In: Eleoma Joshua / Michael Schillmeier (Hg.): Disability in German literature, film, & theater. Edinburgh German Yearbook 4, Camden House, : Rochester, New York, S. 127-152.
von Warden, Ruth (1972): Seine blinde Braut. Das bewegende Schicksal einer jungen Komteß. Silvia-Schicksals-Roman (Bergisch Gladbach: Bastei)
Waldschmidt, Anne / Schillmeier, Michael (2022): Theorieansätze in den Disability Studies. In: Waldschmidt, A. (eds.): Handbuch Disability Studies. Wiesbaden: Springer, S. 93-108
Wolbring, Gregor (2008). The politics of ableism. Development, 5(1), 252–258.