Lernen durch Begegnung
In fast allen Geschichten aus dieser Sammlung kommt es zu Begegnungen von sehenden und blinden Menschen. Viele Filme und Romane thematisieren die Unsicherheiten im Umgang und Missverständnisse, die bei ersten Begegnungen entstehen können. Um offene Ablehnung geht es nur in Ausnahmefällen, z. B. wenn ein Junge, dessen Vater den Kontakt zu behinderten Menschen ablehnt, in einem Sommercamp auf blinde Kinder trifft. (Ein Engel auf Erden: Ein neuer Anfang?, USA 1988). In einer anderen Geschichte wird ein blinder Junge nach einem Umzug von seinen neuen Mitschülern abgelehnt. (Der große Kampf, USA 2004). In aller Regel möchten die sehenden Mitmenschen nicht als behindertenfeindlich wahrgenommen werden. „Ich habe nichts gegen Blinde. Aber ..." (Ryden, Hope: Mein Sommer mit den Wildpferden, 2000, S. 8)
Noch häufiger haben die sehenden Menschen Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Hilflosigkeit. Meistens kommt das nur am Rande vor, z. B. beim ersten Kennenlernen. Begegnungen und Freundschaften können aber auch eine größere Rolle spielen; in einigen, wenigen Geschichten sind sie das zentrale Thema.
Solche ersten Kontakte werden häufig genutzt, um dem (jugendlichen) Publikum etwas über Blindheit zu erzählen. Sehende Kinder oder Jugendliche treffen dann einen blinden Menschen und stellen ihm - stellvertretend für das Publikum - Fragen. Einige Geschichten haben kaum Handlung und sind weitgehend auf die Vermittlung von Wissen reduziert, der Übergang zum Sachbuch oder zur Dokumentation ist dabei unscharf.
Solche Modellbegegnungen können aber auch in Romane und Serien integriert sein, meist geht es dann auch darum, die klassischen Vorurteile zu reflektieren. Die Absicht ist meistens gut, die Umsetzung mehr oder weniger gut gelungen.
Gelegentlich sind Geschichten, in denen es um die Freundschaft von sehenden und blinden Kindern geht, mit einem direkten Appell an das Lesepublikum versehen. Das kann z. B. durch ein Eingangszitat geschehen:
„Greif an mit Gott,
Dem Nächsten muss man helfen,
Es kann uns Gleiches ja begegnen.“
(Schiller, Wilhelm Tell, zitiert nach Martin, Hansjörg: Hell und Dunkel,1992)
Ein anderer Autor fordert seine Leser und Leserinnen am Ende der Geschichte direkt auf, nach einem Kind wie dem blinden Protagonisten zu sehen.
„Und Jonathan? Vielleicht wohnt jemand so wie er in deiner Nachbarschaft. Dann würde er sich freuen, dich kennenzulernen. Kann auch ein Mädchen sein, das deine Hilfe braucht. Schau mal um die Ecke …“ (Schäfer, Robert: Licht für zwei reicht auch für drei, 1986, letzte Seite)
Es gibt auch Geschichten, in denen die sehende Person etwas über sich selbst lernt, die Begegnung mit einem blinden Menschen lässt z. B. Jugendliche erwachsener werden:
Eine Frau, die keinerlei Selbstbewusstsein hatte, wird selbstbewusst und mutig. (Shattuck, Shari: Tage wie Salz und Zucker, 2014)
Ein Eigenbrötler, der keine sozialen Kontakte hatte, lässt sich auf andere Menschen ein. (Ganz nah bei dir, Deutschland 2009)
Sehende Jugendliche werden mutiger, übernehmen Verantwortung, gehen auf Distanz zu früheren oberflächlichen Freunden. Dabei können beide Seiten sich weiterentwickeln. (Schmetterlinge sind frei, USA 1971)
Es kann aber auch sein, dass diese Entwicklung einseitig ist, es sind dann nur die sehenden Jugendlichen, die sich positiv weiterenentwickeln und an Reife gewinnen.
In Serien dauern solche Begegnungen meist eine Folge lang, manchmal auch zwei, dann verschwinden die blinden neuen Bekannten genau wie andere Episodenhelden wieder von der Bildfläche.
Gelegentlich traut auch ein Autor seiner eigenen Botschaft nicht und findet Ereignisse und Gründe, die eine Freundschaft beenden, bevor sie Alltag werden kann. (Martin, Hansjörg: Hell und Dunkel,1992)
Daneben gibt es Geschichten und Serien, in denen genau das passiert: Die Freundschaft wird alltäglich und die Blindheit spielt irgendwann nur noch eine untergeordnete Rolle.