Strukturelle Diskriminierung

Es gibt kaum einen Autor, der behaupten würde, dass unsere Gesellschaft blinden und sehbehinderten Menschen alle Türen offenhält. Nur selten wird unterstellt, dass es am fehlenden Willen oder Können liegt, wenn blinde und sehbehinderte Menschen nicht das erreichen, was sie wollen.

Am ehesten vertritt Zitelmann diese Position. (Zitelmann, Rainer: Ich will, 2021)

Sehr vereinzelt gehen auch Autobiografien in diese Richtung, indem sie betonen, dass es kaum eine Barriere gab, die nicht mit Willen und Können überwunden werden konnte. (Lusseyran, Jacques: Das wiedergefundene Licht, 1983)

In vielen Veröffentlichungen ist erkennbar, dass blinde und sehbehinderte Menschen mit Diskriminierungen zu kämpfen haben. Allerdings reduziert sich die dargestellte Diskriminierung zumeist auf das Thema Vorurteile, genauer gesagt darauf, dass blinden Menschen nichts zugetraut wird. In fast allen Geschichten wird deutliche Kritik an diesen Vorurteilen geübt. Eine Möglichkeit ist, dass die Erzählweise der Geschichte eine Identifizierung mit der blinden Person nahelegt, so dass die Zuschauer und Zuschauerinnen die Vorurteile als falsch und verletzend erleben. (Die Farben des Paradieses, Iran 1998)

Dies kann auch dadurch geschehen, dass die Person mit Vorurteilen am Ende als die Dumme dasteht. (Angie: Blind Date, 2007)

Eine andere Möglichkeit ist, dass sehende Menschen dazulernen. So übernimmt ein Junge die Vorurteile seines Vaters, bis er im Ferienlager Freundschaft mit blinden Kindern schließt. Dieses Muster kommt relativ häufig vor, z. B., wenn in den Erzählungen sehende Menschen blinde Menschen kennen lernen. (Ein Engel auf Erden: Ein neuer Anfang?, USA 1988) (vgl. Lernen über Blindheit)

Meist gelingt dies, indem die blinden Personen ihre sehenden Mitmenschen eines Besseren belehren. Das tun sie, indem sie etwas können oder leisten, was man ihnen gar nicht zugetraut hat, z. B. bei einem sportlichen Ereignis (vgl. Sportler und Sportlerinnen) oder im Krimi bei einer Zeugenbefragung. (vgl. Zeugen, Zeuginnen und Ermittler)

In diesen Fällen wird es dann wieder Aufgabe der blinden Personen, zu überzeugen. (vgl. Bedeutung der Leistung)

Seit den 1970er Jahren greifen blinde Protagonisten und Protagonistinnen dabei auch auf Hilfsmittel zurück. Meistens tauchten diese Hilfsmittel in den Geschichten auf, in denen es um Neuerblindung (vgl. Erblindung) oder um die Begegnung von sehenden und blinden Menschen (vgl. Lernen durch Begegnung) geht.

Dort, wo Hilfsmittel eine Rolle spielen, wird zumindest im Ansatz deutlich, dass Inklusion kein Einzelkampf, sondern auch die Bereitstellung von Möglichkeiten sein kann.

Allerdings bleibt festzuhalten: Fehlende Inklusion wird tendenziell mit individuellen Lösungen beantwortet, d.h. es werden in der Regel persönliche Hilfsmittel für eine einzelne Person eingefordert.

Eine Kritik an struktureller Diskriminierung findet höchstens dann statt, wenn es sich um vergangene Zeiten handelt, z. B. wenn der fehlende Zugang zu Bildung und Schrift in früheren Jahrhunderten thematisiert wird.
Aktuelle Diskriminierung, wie Barrieren im Straßenverkehr und öffentlichen Nahverkehr, fehlende Kommunikationsmöglichkeiten mit Behörden, aber auch Schwierigkeiten bei der Bewilligung von Nachteilsausgleichen werden höchstens gestreift, aber kaum kritisiert.

Strukturelle Diskriminierung wird zwar nicht geleugnet, aber auch nicht richtig und vollständig abgebildet. Vermutlich wird sie von den meisten Autoren und Autorinnen schlicht nicht gesehen. Von daher ist es nicht überraschend, dass man eine Auseinandersetzung mit dem Thema am ehesten von Betoffenen kommt und in Autobiografien zu finden ist.

 

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