„Weltsicht der Blinden"

Erzählungen von blinden Sehern gibt es seit der Antike, eine der bekanntesten ist das Drama Antigone von Sophokles.

Teiresias warnt in den Herrscher, weil er aufgeregte Vogelstimmen vernommen hat und das Opfer für die Götter nicht sauber verbrannte. Kreon nimmt ihn nicht ernst und in der Folge kommt Unglück über Kreons Haus.

Es gibt in der Literatur zahlreiche Erklärungen für Teiresias‘ Blindheit und seine Sehergabe, nach Reinhold Kretschmer gibt es zwei, die einen unmittelbaren Zusammenhang herstellen.

  1. Pallas Athene lässt ihn erblinden, auf Fürbitte seiner Mutter reinigt sie aber zum Ausgleich seine Ohren, „so dass er die Stimmen der Vögel verstand und an Einsicht und Blick ins Verborgene fast dem wahrsagenden Gott Apollo gleichkam.“ (Kretschmer, 1925, S. 86)
  2. Hera raubt ihm das Augenlicht und Zeus gibt ihm zum Ausgleich die Sehergabe. (Kretschmer, 1925, S. 86)

Dieses Drama wurde von zahlreichen Autoren bearbeitet; Teiresias, der als geblendeter Mann über die Sehergabe verfügt, und die Botschaften der Vögel deuten kann, kommt unter anderem bei Euripides vor.

Auch in der neueren Literatur gibt es blinde Seher und Seherinnen. Sie sehen Gefahren voraus, können Menschen aufspüren oder bei der Mordermittlung helfen.

Die Autoren und Autorinnen lassen dabei teilweise offen, inwieweit es sich um eine übersinnliche Gabe handelt und ob es einen Zusammenhang mit der Blindheit gibt. So warnt ein blindes Mädchen vor ihrem Tod, einen aggressiven und gefährlichen Passagier zu töten. Sie sagt, die Gruppe brauche diesen Mann noch und behält damit Recht.

„„Ich frage mich langsam, ob du übersinnliche Fähigkeiten hast, Dinah … ob du Sachen weißt, die uns verborgen sind. (…)" (King, Stephen: Langoliers, 1991, S. 216)

Aber selbst dort, wo es für die geheimnisvollen und übersinnlichen Fähigkeiten am Ende eine andere Erklärung gibt, wird indirekt ein Bezug zum blinden Seher naheglegt.

Blinde Menschen mit seherischen Fähigkeiten können auch – im übertragenen Sinne – ein Verkaufsargument sein, z. B. wenn eine Autobiografie eines blinden Menschen damit vermarktet wird. In einem Klappentext heißt es:

„Jim Knipfel ist der moderne Seher im modernen Gewand. (…) es ist ein grotesker Aufschrei dessen, der hinter dem Schein, den er immer weniger zu sehen vermag, das wahre Sein erkennt.“ (Knipfel, Jim: Blindfisch, 2002, Klappentext)

Selbst dort, wo blinde Menschen nicht direkt als Seher oder Seherin bezeichnet werden, sind sie doch häufig durch einen besonderen Blick auf die Welt charakterisiert.

Ebenfalls in einem Klappentext ist von der „Weltsicht der Blinden“ die Rede, und es heißt weiter:

„In diesem Nebeneinander der Parallelwelten wird unsere Welt als verflacht entblößt. Sind wir, die sehenden Leser die eigentlichen Blinden?“ (Guibert, Hervé: Blinde, 1986, Klappentext)

Über das, was die besondere Sicht der blinden Menschen ausmacht, gibt es unterschiedliche Meinungen. In den beiden oben genannten Büchern scheint es eher um Gesellschaftskritik im weitesten Sinne zu gehen.

Weit häufiger ist es eine besondere Sensibilität für Menschen und ein herausragender Scharfblick.

Das kann dazu führen, dass blinden Menschen pauschal nachgesagt wird, vorurteilslos und anständig zu sein.

Diese besondere Sicht wird anders als beim Seher begründet. Es müssen nicht unbedingt Göttergaben sein; manchmal reicht es, dass sich blinde Menschen nicht von Äußerlichkeiten ablenken lassen.

„Das Dunkel hilft einem, sich auf das Geistige zu konzentrieren, es kann einem helfen zu erkennen, was wichtig ist.“ (Safire, William: Der Anschlag, 1978, S. 672)

„Mit unseren Augen achten wir auf allerlei Kleinigkeiten, die nichts zur Sache tun. (…) Diesen Fehler wirst du nicht mehr machen.“(Haar, Jaap ter: Behalt das Leben lieb, 1985, S. 20)

Besonders deutlich wird diese besondere „Blindensicht“ anhand des „Vorher-Nachher-Effekts“, also wenn ein Mensch erblindet. Dann fallen Sätze wie:

„Erst als ich blind wurde und wusste, dass mein Leben praktisch zu Ende war, sah ich klarer, als ich es je mit sehenden Augen konnte.“ (Holt, Victoria: Verlorene Spur, 1983, S. 93)

„Ich könnte paradox sagen, Blindheit hat mir die Augen geöffnet.“ (Vogel, Traugott: Der blinde Seher, 1930, S. 378)

Einsichten wie diese ziehen sich durch viele Produktionen. Hier eine kleine Auswahl.

Allerdings bedeuten solche Erkenntnisse nicht unbedingt eine konkrete Anerkennung für die jeweilige Person. Besonders deutlich wird dies an dem Roman von David Safire: Die Fähigkeit des blinden Manns, sich auf das Geistige zu konzentrieren, ändert nichts daran, dass man ihm an anderer Stelle die Fähigkeit abspricht, ein politisches Amt auszuüben. (Safire, William: Der Anschlag, 1978) (vgl. Beruf)

Literatur:

Kretschmer, Reinhold: Die Geschichte des Blindenwesens. Vom Altertum bis zum Beginn der allgemeinen Blindenbildung
Ratibor : Druck und Verlag der Oberschlesischen Gesellschaftsdruckerei m. b. H., 1925
201 S.

 

 

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