Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Wilhelm Heitmeyer

»Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Das ist die zentrale Botschaft unseres Grundgesetzes. Die Verfassungswirklichkeit dieser Gesellschaft ist eine andere: Die Würde des Menschen ist antastbar.

Um dieses genauer zu charakterisieren ist der Begriff Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entwickelt (Heitmeyer 2002) und als Konzept für empirische Forschungen ausgearbeitet worden.

Der Kern dieser Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit bildet die Ideologie der Ungleichwertigkeit. Das bedeutet, dass Menschen allein aufgrund ihrer zugewiesenen oder selbstgewählten Zugehörigkeit zu Gruppen – unabhängig von ihrem individuellen Verhalten – in die Abwertung, Diskriminierung und Gewalt hineingeraten, weil machtvolle Markierungsakteure in Politik und Medien sowie Teile der Bevölkerung sie als ungleichwertig ansehen.

Das betrifft eine ganze Bandbreite betroffener Menschen und ihrer Gruppenzugehörigkeit und den entsprechenden negativen Etikettierungen: Schwarze, Juden, Muslime, Sinti und Roma, Homosexuelle, Obdachlosen, Menschen mit Handicaps, Frauen, Langzeitarbeitslose u.a.

Mit diesem Konzept wollten wir erreichen, dass nicht Opfer 1. und 2. Klasse entstehen, weil zum Beispiel vorrangig oder ausschließlich der furchtbare Rassismus oder Antisemitismus im Mittelpunkt öffentlicher Debatte stehen sondern Opfergruppen gleichwertig beachtet und unterstützt werden.

Diese Ungleichwertigkeit kann aus mehreren Quellen gespeist werden. Nur zwei sollen kurz angerissen werden.

Eine politische Quelle ist zum Beispiel die Markierung als »kulturfremd«, weil diese Gruppen die deutsche Identität allein aufgrund ihrer Anwesenheit gefährden und deshalb unter anderem mit einer zwangsweisen massenhaften »Remigration« aus der Gesellschaft und dem Land vertrieben werden sollen, wie es in der AfD, dem »Autoritären Nationalradikalismus« (Heitmeyer 2018), gedacht wird.

Eine ökonomische Quelle ist zum Beispiel aus dem landnehmenden Kapitalismus mit seinen Grundprinzipien von Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz entstanden. Solche Prinzipien, die in der ökonomischen Logik betriebs- und volkswirtschaftlicher Abläufe ihren Platz haben, sind inzwischen in jene sozialen Lebensbereiche der Gesellschaft eingedrungen, die nach anderen Kriterien funktionieren sollten. Das was sich inzwischen abzeichnet, kennzeichnen wir als »ökonomistisches Denken« in Teilen der Bevölkerung, d. h., dass Menschen vorrangig nach Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz beurteilt werden und davon etwa die Unterstützungsbereitschaft der Gesellschaft abhängig gemacht wird.

Fragt man nach dem Mechanismus, was Markierungsakteure in Politik und Medien und Teile der Bevölkerung dazu treibt, solche Abwertungen und Diskriminierungen zu betreiben, dann landet man schnell bei Überlegenheitsattitüden und Machtansprüchen, die dazu führen, sich selbst aufzuwerten, indem man andere abwertet. Das geschieht vor allem in Krisenzeiten, wenn der eigene Status gefährdet ist.

Das Konzept ist in umfangreichen Langzeitstudien mit jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen zwischen 2002 und 2012 umgesetzt und in der Buchreihe »Deutsche Zustände« mit 10 Bänden veröffentlicht worden. Seit 2014 wird dies fortgeführt in den sogenannten »Mitte«-Studien.

Darin wurde und wird deutlich, dass erhebliche Teile der Bevölkerung solche Muster der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit vertreten und damit auch Verantwortung tragen für die politische Rechtsentwicklung und die Gefährdung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie.

Literatur:

Heitmeyer, W. (2002): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse. In: Heitmeyer, W. (Hrsg.): Deutsche Zustände. Suhrkamp Verlag, S. 15-36.

Heitmeyer, W. (2018): Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I. Suhrkamp Verlag.  

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