Heilung
In über 130 Fällen besteht das gute Ende in einer Heilung bzw. Aussicht auf Heilung.
Die Zahlen:
In 75 Titeln wird die blinde Person vollständig geheilt, in 15 Geschichten wird die Heilung in Aussicht gestellt, in 36 Geschichten ist die Erblindung nur vorübergehend. Viermal bleiben noch Seheinschränkungen, viermal erblindet die Person erneut.
Die Heilungsmethoden sind sehr unterschiedlich. In 55 Geschichten werden die blinden Protagonisten oder Protagonistinnen operiert. Meist sind es Hornhauttransplantationen, auch Katarakt-Operationen werden genannt. In seltenen Fällen werden Splitter im Gehirn entfernt oder Augen transplantiert. Meist ist nur allgemein von einer Operation die Rede. Einige Autoren oder Autorinnen waren auch ihrer Zeit weit voraus und pflanzten Chips ins Gehirn ein oder fanden andere Möglichkeiten, Bilder direkt ins Gehirn zu projizieren. In manchen Geschichten werden weitere Behandlungen beschrieben, z. B. Medikamente, Gespräche oder die Aufarbeitung eines Traumas. In fast jeder zehnten Heilungsgeschichte lösen Retraumatisierungen die Heilung aus. In weiteren 17 Geschichten – und nicht nur in Märchen oder Fantasy-Geschichten – werden die blinden Menschen durch unerklärliche Spontanheilungen oder Wunderlösungen geheilt.
Nicht selten sind die Geschichten so aufgebaut, dass eine Heilung alternativlos erscheint. Eine Auseinandersetzung mit der Erblindung findet in diesen Fällen nicht statt, jeder Gedanke an Hilfsmittel verbietet sich, statt auf psychische Verarbeitung setzen die Autoren und Autorinnen auf die feste Hoffnung.
So lehnt ein Mädchen das Erlernen der Punktschrift mit der Begründung ab, dass der Arzt ihr die Heilung in Aussicht gestellt hat.
„Wenn ich erstmal die Punktschrift lerne, kann ich gar nicht mehr daran glauben.“ (Grasnick, Ilse: Ein Mädel erlebt etwas Wunderbares, 1951, S. 8)
Eine andere Variante ist, dass ein erblindetes Kind mit Notlügen hingehalten wird. Obwohl der Arzt in dieser Geschichte eine medizinische Lösung ausschließt, darf das schulpflichtige Kind nicht darüber informiert werden. Die Frage, wann und wie man dem Jungen erklärt, dass er blind bleiben wird, verschieben die Erwachsenen so lange, bis eine Wunderheilung alle Probleme mit einem Schlag löst. (Nähring, Christiane: Auf vier Hufen ins Licht, 1988)
Eine Heilung kann auch eine positive Entwicklung auslösen.
Pünktlich mit der Heilung werden die Kinder erwachsener und verlassen ihre kindlichen Fantasiewelten. Dies sind eigentlich normale Entwicklungsschritte, die aber so dargestellt werden, als hingen sie eng mit dem Nichtsehen bzw. dem Sehen zusammen. (Prochaska, Iva: Fünf Minuten vor dem Abendessen, 1992)
Aber auch bei erwachsenen Menschen kann die Heilung zu einer positiven Wesensveränderung führen. So wird z. B. aus einer sehr apathischen blinden Frau, die völlig in sich gekehrt war, eine kontaktfreudige junge Frau, die erstmals aktiv am Leben teilnimmt.
„Sie war immer sehr still gewesen, aber mit der Gabe des Sehens schien sie die Gabe des Sprechens gewonnen zu haben.“ (Danella, Utta: Die Unbesiegte, 1991, S.533)
Mit der Heilung verschwinden die unterschiedlichsten sozialen Probleme, zerstörte Beziehungen werden ohne weiteres Zutun wieder glücklich und selbst das soziale Umfeld kann wieder zur Ruhe kommen. Für den geheilten Menschen ist die Welt in Ordnung und alles wird gut. (Das Wunder, BRD 1985)
Liebe ist plötzlich wieder möglich. Auch wenn es nicht explizit gesagt wird, Blindheit scheint der Hemmschuh zu sein. Die Veränderung tritt nicht ein, wenn sich die Umwelt verändert, sondern wenn die Blindheit beseitigt ist. (Laurens, Ute: Die Blinde von der Insel)
Noch deutlicher wird es in einem Film aus dem Jahr 1954. Ein Mann und eine blinde Frau lieben sich, doch die Frau will den Mann nicht mit ihrer Blindheit belasten. (Die wunderbare Macht, USA 1954)
Heilung kann in einigen Geschichten einen unwürdigen, unerträglichen Zustand beenden. So wird in einem Fall das Leben mit Blindheit mit einem Kerker verglichen, die blinde Frau ist eine Gefangene, für die „selbst der Tod seine Schrecken verloren hat“ (Hasso, Paul: Sehnsucht in den blinden Augen, S.55)
In einer anderen Geschichte ist eine blinde Frau zufrieden mit ihrem Leben, bis ein Mann ihr sagt, dass ihre Leistungen nur nette andressierte Übungen sind. Er vergleicht sie mit ihrem Hund, der zwar einen Ball fangen kann, aber dadurch nicht zum Handballspieler wird. Er kann sie überzeugen, sich operieren zu lassen und dann ein richtig gutes Leben zu führen. (Flieg ins Licht, Maryann, USA 1999)
In einem Kinderbuch aus den 1960er Jahren sagt die Mutter nach der Heilung ihre Tochter, sie sei nun Gott sei Dank wieder ein ganzer Mensch. (Weilen, Helene: Ihr bester Freund, 1967)
Vordergründig nehmen diese Geschichten Partei für die blinde Person. Aber indirekt wird die Aussage getroffen, dass ein Leben ohne zu sehen nicht als vollwertig erachtet wird.
Es geht aber auch anders. So hofft eine Frau auf die Heilung ihres kriegsblinden Mannes, meint aber, auch ohne Heilung hätten sie ein gutes Leben. (Schumacher, Tony: Ein Schwarzwaldkind, 1931)
In sehr seltenen Beispielen wird das Ganze sogar umgedreht, der Zustand der Blindheit wird als der bessere gesehen. In einer Geschichte wird eine junge blinde Frau geheilt, doch sie fühlt sich mit dem neuen Sehen nicht glücklich. Deshalb ist sie geradezu erleichtert, als sie wieder neu erblindet. (Collins, Wilkie: Lucilla, 1977)
Noch etwas anders verhält es sich in einer Geschichte aus dem frühen 20. Jahrhundert. Hier stellt eine sehend gewordene Frau fest, dass sie ihr Leben lang Illusionen nachhing. Doch anders als in den obengenannten Beispielen löst diese Erkenntnis keine positive Entwicklung aus, die Heilung hat sie unglücklich gemacht. (Gide, André: Die Pastoralsymphonie, 1980)
Heilungsgeschichten waren im 20. Jahrhundert sehr beliebt, was ab den 1980er Jahren jedoch stark abnahm.