Lebensrealität blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland

Melanie Wölwer

In Deutschland leben etwa 1,2 Millionen Menschen mit einer Sehbehinderung oder Erblindung. Diese Menschen stehen tagtäglich vor zahlreichen Herausforderungen im privaten und beruflichen Alltag, bei der Mobilität und im Zugang zu Informationen. Obwohl sie durch Gesetze und spezielle Unterstützungsangebote geschützt und gefördert werden sollen, gibt es nach wie vor erhebliche Barrieren und Lücken. In diesem Artikel betrachten wir zentrale Aspekte der Lebensrealität blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland, von der Altersverteilung über den Arbeitsmarkt bis hin zur Barrierefreiheit und dem öffentlichen Nahverkehr.

Schwierigkeit verlässlicher Zahlen zur Betroffenenanzahl

Eine der ersten Schwierigkeiten besteht darin, verlässliche Zahlen zur genauen Anzahl blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland zu erheben. Die Angabe von etwa 1,2 Millionen Betroffenen beruht auf Schätzungen und Hochrechnungen, da viele Menschen aufgrund fehlender einheitlicher Meldeverfahren oder diagnostischer Standards nicht in offiziellen Statistiken erfasst werden. Ein zentrales Problem besteht darin, dass die Sehbehinderung nicht immer in offizielle Kategorien wie "blind" oder "sehbehindert" eingeordnet wird. Zudem kann der Verlauf einer Sehbehinderung stark variieren, was eine Einteilung in starre Kategorien erschwert.

Ein weiterer Faktor ist die Altersstruktur: Die meisten Betroffenen sind über 60 Jahre alt, weshalb auch Altersblindheit, etwa durch Makuladegeneration oder Diabetes, häufig nicht statistisch differenziert erfasst wird. Auch schwankt die Zahl derjenigen, die eine Sehbehinderung im Rahmen der gesetzlichen Schwerbehinderteneigenschaft anerkennen lassen, von Bundesland zu Bundesland, da es hier unterschiedliche Anträge und Meldepflichten gibt.

Altersverteilung und Verteilung blind – sehbehindert

Sehbehinderungen und Blindheit treten vermehrt im höheren Lebensalter auf. Die häufigsten Ursachen sind altersbedingte Erkrankungen wie die Makuladegeneration (AMD), die diabetische Retinopathie oder der grüne Star (Glaukom). Dabei macht das Alter oft den Unterschied, ob Betroffene Unterstützung beantragen, da sich ältere Menschen oft erst im späten Verlauf ihres Lebens eine solche Diagnose stellen lassen. Etwa 155.000 Menschen in Deutschland gelten als blind, während die Mehrheit der übrigen Betroffenen sehbehindert ist. Je nach Schwere der Beeinträchtigung gestaltet sich die benötigte Unterstützung unterschiedlich, was wiederum Einfluss auf die Lebensqualität und den Unterstützungsbedarf hat.

Blindengeld und Sehbehindertengeld: Unterschiede zwischen den Bundesländern

In Deutschland gibt es für blinde Menschen das sogenannte Blindengeld, eine finanzielle Unterstützung, die Betroffenen aufgrund ihres zusätzlichen Bedarfs zusteht. Die Höhe des Blindengeldes variiert jedoch stark zwischen den Bundesländern und liegt zwischen 300 und 700 Euro monatlich. Diese ungleiche Verteilung führt dazu, dass Betroffene je nach Wohnort unterschiedlich hohe Unterstützungsleistungen erhalten.

In einigen Bundesländern, darunter Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, wird zudem ein Sehbehindertengeld gezahlt. Dies kommt auch Menschen zugute, die nicht vollständig erblindet sind, aber aufgrund einer erheblichen Sehbehinderung ihren Alltag nur eingeschränkt bewältigen können. Diese zusätzliche Unterstützung ist jedoch in vielen Bundesländern nicht vorgesehen, was oft dazu führt, dass sich sehbehinderte Menschen mit hohen Ausgaben für spezielle Hilfsmittel und Dienstleistungen konfrontiert sehen, ohne ausreichende finanzielle Entlastung zu erhalten.

Notwendigkeit von Frühförderung und Mobilitätstraining

Frühförderung ist besonders wichtig für Kinder, die blind oder stark sehbehindert geboren werden oder diese Beeinträchtigung im frühen Kindesalter entwickeln. Durch spezialisierte Fördermöglichkeiten lernen diese Kinder, sich mit der eingeschränkten visuellen Wahrnehmung zurechtzufinden und andere Sinne zu nutzen. So werden sie etwa darin geschult, Informationen durch Berührungen oder akustische Signale wahrzunehmen und den Umgang mit Blindenschrift (Brailleschrift) zu erlernen.

Zusätzlich stellt das Orientierungs- und Mobilitätstraining (O&M) eine wichtige Unterstützung dar. Es lehrt blinde und sehbehinderte Menschen die sichere Fortbewegung im Alltag, sowohl in Innenräumen als auch auf öffentlichen Straßen. Diese Trainings sind essenziell, um betroffenen Menschen Unabhängigkeit und Sicherheit in ihrem Alltag zu ermöglichen und sind auch im Erwachsenenalter wichtig, wenn sich die Sehfähigkeit im Verlauf des Lebens verschlechtert.

Situation auf dem Arbeitsmarkt

Blinde und sehbehinderte Menschen sind auf dem Arbeitsmarkt stark benachteiligt. Nach Daten des deutschen Statistischen Bundesamts und verschiedenen Studien schwankt die Beschäftigungsquote bei blinden und stark sehbehinderten Menschen zwischen 20 % und 30 % – je nach Grad der Behinderung und Erhebungsart. Im Vergleich dazu liegt die allgemeine Erwerbsquote in Deutschland bei Menschen ohne Behinderung bei über 80 %. Viele Unternehmen sind unsicher, welche Anpassungen für die Integration sehbehinderter Menschen nötig sind, und fürchten Mehrkosten und organisatorische Herausforderungen. Dabei könnten Hilfsmittel wie Screenreader, Vergrößerungssoftware und Braillezeilen den Arbeitsalltag erleichtern und somit zur Inklusion beitragen.

Obwohl einige blinde und sehbehinderte Menschen in qualifizierten Berufen arbeiten, bleibt der Großteil entweder arbeitslos oder übt Tätigkeiten aus, die nicht ihrem Bildungsniveau entsprechen. Dies ist nicht selten auf strukturelle Vorurteile und Unsicherheiten bei Arbeitgebern zurückzuführen. Programme der Bundesagentur für Arbeit sowie spezielle Qualifikationsangebote durch Selbsthilfeorganisationen und Berufsbildungswerke bieten hier Unterstützung. Dennoch besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen den Potenzialen und Qualifikationen seheingeschränkter Menschen und ihren tatsächlichen beruflichen Chancen.

Barrierefreiheit: Anspruch und Realität

In Deutschland gilt für öffentliche Einrichtungen die Verpflichtung zur Barrierefreiheit. Öffentliche Gebäude, Verkehrsmittel und Behördendienste sind gesetzlich verpflichtet, Barrierefreiheit zu gewährleisten, um eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Der private Sektor – darunter private Unternehmen, Websites und medizinische Einrichtungen – ist bisher jedoch weitgehend von dieser Regelung ausgenommen, was für blinde und sehbehinderte Menschen erhebliche Einschränkungen mit sich bringt.

Die fehlende Barrierefreiheit in vielen medizinischen Einrichtungen etwa ist ein besonders gravierendes Problem. Medizinische Praxen, Krankenhäuser und Apotheken sind in der Regel nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet, sodass es in diesen Einrichtungen oft an Leitsystemen und an Informationen in barrierefreien Formaten mangelt. Für blinde und sehbehinderte Menschen bedeutet dies, dass sie auf fremde Hilfe angewiesen sind, um sich in den Einrichtungen zu orientieren und medizinische Informationen zu erhalten.

Ein weiteres Problem ist der Zugang für Blindenführhunde. Sie sind für ihre Besitzer unverzichtbare Begleiter, die nicht nur zur Orientierung, sondern auch für das Gefühl der Sicherheit im Alltag beitragen. Wenn der Zugang für Blindenführhunde jedoch verweigert wird, führt dies zu erheblichen Einschränkungen und erschwert die selbstständige Teilhabe.

Barrierefreie Kommunikation und digitaler Zugang

Im öffentlichen Bereich ist die barrierefreie Kommunikation gesetzlich vorgeschrieben, doch die Umsetzung ist oft unzureichend. Behörden und staatliche Einrichtungen sind verpflichtet, Informationen in barrierefreien Formaten bereitzustellen – etwa in Brailleschrift, Großdruck oder als Audiodateien. Viele Formulare und behördliche Dokumente sind jedoch nach wie vor nicht ohne Weiteres zugänglich und müssen erst auf Anfrage in geeigneten Formaten zur Verfügung gestellt werden.

Im privaten Bereich, zu dem auch viele Websites und mobile Apps zählen, ist die Barrierefreiheit bislang nicht verpflichtend geregelt. Dies erschwert es blinden und sehbehinderten Menschen, an vielen Bereichen des digitalen Lebens teilzuhaben, sei es beim Online-Banking oder bei der Nutzung von Streaming-Diensten. Selbst grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheitsportale oder Krankenkassen-Websites sind oft schwer zugänglich, sodass blinde Menschen wichtige Informationen nicht selbstständig abrufen können.

Ab 2025 sind mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) auch Teile des privaten Sektors zu barrierefreien Produkten und Dienstleistungen verpflichtet. Dies betrifft unter anderem Banken, den E-Commerce und Anbieter digitaler Dienstleistungen. Ab 2025 müssen sie sicherstellen, dass ihre Angebote für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind. Ziel des BFSG ist es, gleichberechtigte Teilhabe zu fördern und Barrieren im Alltag abzubauen, indem digitale und physische Zugänge barrierefrei gestaltet werden. Damit erweitert das Gesetz die bisher vorwiegend für den öffentlichen Sektor geltenden Barrierefreiheitsvorgaben nun auch auf private Unternehmen.

Barrierefreier öffentlicher Nahverkehr (ÖPNV)

Im öffentlichen Nahverkehr sind blinde und sehbehinderte Menschen auf Barrierefreiheit angewiesen. Taktile Leitsysteme, akustische Ansagen und gut lesbare visuelle Informationen sind essenziell, um Bahnhöfe, Busse und Bahnen sicher nutzen zu können. In Großstädten wie Berlin und Hamburg gibt es zwar schon viele Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit, besonders was die Zugänglichkeit von Fahrgastinformationen betrifft, ist man hier jedoch auch noch weit von den erforderlichen Standards entfernt. In kleineren Städten und auf dem Land ist die Umsetzung der Vorgaben an die Barrierefreiheiten oft noch unzureichend. Dies schränkt die Mobilität und Unabhängigkeit blinder und sehbehinderter Menschen erheblich ein.

Barrierefreiheit im Straßenverkehr

Im Straßenverkehr sind beispielsweise akustische Ampeln und Leitsysteme für Menschen mit Seheinschränkung unerlässlich, um sicher Straßen zu überqueren. Doch auch hier ist die Ausstattung nicht flächendeckend vorhanden, insbesondere in ländlichen Regionen. Der zunehmende Einsatz von Elektrofahrzeugen stellt eine zusätzliche Herausforderung dar, da diese aufgrund ihrer Geräuscharmut von blinden Menschen kaum wahrgenommen werden können. E-Scooter, die häufig auf Gehwegen geparkt werden, stellen seit einigen Jahren ein zusätzliches erhebliches Unfallrisiko für Betroffene dar.

Fazit

Die Lebensrealität blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland zeigt, dass gesetzliche Vorgaben zur Barrierefreiheit und finanzielle Unterstützungen wie Blindengeld und Sehbehindertengeld wichtige Schritte sind, doch nach wie vor erhebliche Defizite bestehen. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass sich die Verpflichtung zur Barrierefreiheit nur auf den öffentlichen Sektor beschränkt, während der private Bereich – darunter wichtige Bereiche wie medizinische Einrichtungen, private Websites und Firmengebäude – bislang nicht und auch perspektivisch nur eingeschränkt zur Barrierefreiheit verpflichtet ist.

Im medizinischen Bereich fehlen Leitsysteme, barrierefreie Informationen und der Zugang für Blindenführhunde. Diese strukturellen Barrieren schränken die Selbstständigkeit blinder und sehbehinderter Menschen stark ein und führen zu Abhängigkeit von fremder Unterstützung. Auf dem Arbeitsmarkt sind lange Genehmigungszeiten für Hilfsmittel und fehlende Sensibilisierung bei Arbeitgebern ein Hindernis für blinde Menschen, was zu einer niedrigen Beschäftigungsquote führt.

Die umfassende Umsetzung von Barrierefreiheit – sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor – ist eine Grundvoraussetzung, um die gleichberechtigte Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen in allen Lebensbereichen zu ermöglichen und ihre Lebensqualität nachhaltig zu verbessern.

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