Bedeutung der Leistung

Viele blinde und sehbehinderte Menschen machen immer wieder die Erfahrung, dass ihnen nur wenige Kompetenzen zugetraut werden. In den Filmen und Romanen spiegelt sich dies überwiegend nicht wider, von einigen Ausnahmen abgesehen (vgl. Witzfiguren). Ansonsten bemühen sich die Autoren und Autorinnen um ein vordergründig positives Blindenbild. Dies betrifft besonders Produktionen, die in den letzten 50 Jahren entstanden sind. Der Umkehrschluss, damit sei alles in Ordnung, ist allerdings auch zu kurz gegriffen.  Ebenso ist es zu kurz gegriffen, sich auf die Frage zu beschränken, ob die jeweilige Leistung „realistisch“ oder „glaubwürdig“ ist.

Dazu einige grundsätzliche Überlegungen:

Man sollte nie „nie“ sagen. Es gibt immer Menschen, die mehr können als andere. Der Spitzensport, die Spitzenforschung und zahlreiche Fernsehshows leben davon.
Die meisten Filme und Romane, die wir täglich konsumieren, haben Helden oder Heldinnen, die cleverer, schneller oder stärker sind als andere. Egal, ob das realistisch ist oder nicht, es ist unterhaltsam und wird vom Publikum nachgefragt.
Es wäre nicht inklusiv, wenn blinde oder sehbehinderte Menschen nicht auch ihren Anteil an solchen Heldenrollen hätten.
Entscheidend ist, welche Funktion die Leistung bzw. die Anerkennung der Leistung hat.

Variante 1:

Blinde Menschen können unter guten Rahmenbedingungen genauso ihr vielfältiges Potenzial ausschöpfen wie sehende Menschen auch, es ist das Grundrecht eines jeden Menschen, das ihm dies ermöglicht wird.

Dies wird in vielen Beiträgen deutlich, in denen Hilfsmittel vorgestellt und erklärt werden. Das können bekannte Hilfsmittel sein, z. B. der Führhund, der seinen Besitzer oder seine Besitzerin zur Arbeit führt und ihm oder ihr damit berufliche Teilhabe ermöglicht. Es kann aber auch Punktschrift sein, die blinden Kindern Zugang zu Bildung verschafft.
Aber auch um individuelle Lösungen kann es sich handeln wie akustische Signale für eine Reiterin, um ihr den Reitsport zu ermöglichen, oder Einzelstunden im Ringen, um einem blinden Schüler die Bewegungsabläufe zu vermitteln (vgl. Sportler und Sportlerinnen).

Dies bedeutet folglich, dass die Gesellschaft in der Pflicht ist, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen.
Eine solche Deutung wird häufig nahegelegt in Geschichten, in denen sehende Menschen sich das erste Mal mit dem Thema Blindheit auseinandersetzen (vgl. Lernen durch Begegnung), in denen Menschen neu erblinden, (vgl. Erblindung), oder in denen es um sportliche Aktivitäten geht, (vgl. Sportler und Sportlerinnen).

Variante 2

Blinden und sehbehinderten Menschen wird Anerkennung und Teilhabe gewährt, wenn sie beweisen, dass sie tüchtig genug sind. Das heißt zum einen: Die Inklusionspflicht liegt bei den Betroffenen; sie müssen beweisen, dass sie bereit sind, alle Barrieren zu überwinden.
Besonders deutlich zeigt sich dies bei Rainer Zitelmann, der in verschiedenen Biografien immer wieder lobend hervorhebt, wenn ein behinderter Mensch die Probleme nicht in seinem Umfeld sucht, sondern seine Behinderung aus eigener Kraft kompensiert, Barrieren überwindet und damit auch noch überdurchschnittlichen Erfolg hat.

„Aus psychologischen Untersuchungen wissen wir, dass sich erfolglose Menschen als Opfer äußerer Umstände sehen und glauben, ihr Leben werde von Faktoren bestimmt, die außerhalb ihres eigenen Einflusses liegen. Erfolgreiche Menschen betonen viel stärker jene Dinge, die sie selbst beeinflussen und verändern können.“ (Zitelmann, Rainer: Ich will - wie wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderungen lernen können, 2002, S. 301)

Das heißt aber auch: Diese Anerkennung gilt nur den Tüchtigen, weniger fitte Menschen werden stillschweigend ausgeklammert.
Wohlgemerkt: So offen und deutlich wie Zitelmann unterscheiden nur wenige zwischen den Erfolgreichen und den Erfolglosen. Kaum jemand sagt explizit: Wir erkennen dich erst an, wenn du Leistung zeigst.

Dies schwingt eher nebenbei mit, wenn betont wird, dass eine Person „trotz“ ihrer Blindheit etwas kann oder erreicht hat, wenn blinden Protagonisten oder Protagonistinnen - vielleicht unter Einsatz ihres Lebens - Heldentaten vollbringen mit der Begründung:

„Ich wollte noch wissen, ob ich zu irgendetwas zu gebrauchen bin.“ (Das Ziel im Dunkel, Frankreich 1993)

Der Zusammenhang zwischen Leistung und dem Recht auf Teilhabe klingt an, wenn eine blinde Person (sportliche) Höchstleistungen erbringt, um Grundrechte durchzusetzen.

„Sam und ich dachten, daß die Besteigung des Denali dieser Botschaft vollkommen entsprechen und helfen würde, Türen zur Verbesserung der Chancen von Blinden in den Schulen und am Arbeitsplatz zu öffnen. (Weihenmyer, Eric: Ich fühlte den Himmel, 2001, S. 221)

Dies zeigt sich aber auch jedes Mal, wenn eine überdurchschnittliche Leistung eines blinden Menschen einen Sinneswandel der sehenden Personen hervorruft.

Symptomatisch für diese Sicht ist zudem, dass ältere blinde Menschen und mehrfachbehinderte Menschen auffallend unterrepräsentiert sind.

Variante 3

Eine herausragende Fähigkeit ist der Ausgleich, den die Natur, das Schicksal oder ein Gott den benachteiligten Menschen gibt. Ein bekanntes Beispiel ist der erblindete Mensch, der die Sehergabe erhalten hat. (vgl. „Weltsicht der Blinden")

Doch auch in vielen Alltagsgeschichten wird dieser Ausgleich immer wieder vorausgesetzt, nämlich dann, wenn blinden Menschen unterstellt wird, besser zu hören.

Manchmal nimmt das so extreme Formen an, dass blinde Menschen ihre Mitmenschen am Herzschlag erkennen (Sendker, Jan Philipp: Das Herzenhören, 2002) oder Gespräche verfolgen können, die an einem weitentfernten Ort geführt werden. (Smallville: Flüstern, USA 2003)

In der Regel handelt es sich aber einfach um gut ausgebildete andere Sinne. Unterstellt wird dabei, dass diese gut ausgebildeten Sinne sich automatisch mit der Erblindung einstellen und allen erblindeten Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Die Situation von hör-sehbehinderten Menschen oder älteren Menschen wird dabei nicht mitgedacht.

Man beschränkt sich auf die Darstellung der blinden Menschen, bei denen der Ausgleich durch andere Sinne funktioniert, und begründet damit das Bild einer ausgleichenden göttlichen oder (Natur-)Gerechtigkeit, die blinde Menschen gut versorgt.

„Woher weißt du das?“, fragte sie erstaunt.
„Ich fühle es. Mama sagt, alle Blinden fühlen so fein. Das hat Gott gemacht.“ (Zolliger, Martha: Der blinde Junge, 1992, S. 17 f.)

Inklusion und Teilhabe sind somit Sache der Natur oder eines Gottes.

Diese drei Varianten existieren nicht sauber getrennt voneinander. Es ist durchaus möglich, dass z.B. der Unterstützungsbedarf eines blinden Sportlers anerkannt wird, er am Ende der Geschichte aber aufgrund einer herausragenden Leistung überzeugt.

Allerdings gibt es große Unterschiede, was den Kern einer Geschichte ausmacht und worauf die Autoren oder Autorinnen ihren Schwerpunkt legen. Das wiederum spiegelt das Verständnis von dem, was Inklusion bedeutet, für wen sie gilt und wer in die Verantwortung für Inklusion genommen wird.

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