Blindheit als Metapher

Die Darstellung von Blindheit wird häufig in einen direkten Zusammenhang mit Sehen und Nicht-Sehen als Metapher gebracht. Es ist gar nicht möglich, alle Geschichten zu listen, hier ein kleine Auswahl. In den meisten Geschichten wird es beiläufig erwahnt, es fallen Sätze wie:

„Das kleine blinde Mädchen hat mir Sehen beigebracht.. und noch einiges mehr …“ (Berg, Werner: Kilimandscharo, 1983, S. 200)

Diese Geschichten folgen oft demselben Muster:  Es gibt eine blinde Person, aber die Sehenden sind viel blinder.

„Auch Elsa war „blind“ ihr Leben lang, nicht im körperlichen Sinne, sondern ohne Wachsein für das, was sie eigentlich wollte.“ (Ferle, Horst: Nachwort in: Mechtel, Angelika: Die Blindgängerin, 1989, S. 383)

Gemeint ist: Früher hat eine Person bestimmte Ereignisse oder Emotionen nicht wahrgenommen, die ihr nach der Erblindung oder nach einer Begegnung mit einem blinden Menschen sehr bewusst werden. Noch anders: Früher war diese Person nicht zugänglich für bestimmte Einsichten oder sie war ahnungslos.

Sehen oder Licht sind die Metaphern für Erkenntnis, manchmal auch für Hoffnung. Blindsein oder Dunkelheit stehen als Metaphern für Ahnungs- oder Perspektivlosigkeit.

Dies kann auch gleich im Titel auftauchen.

Die blinde Liebe oder das blinde Vertrauen können noch als positiver Vertrauensvorschuss gewertet werden, aber spätestens bei der blinden Rache oder dem blinden Eifer wird deutlich, dass „blind“ eine Metapher für „wenig zielgerichtet“ ist.

Das Interessante dabei ist: Wenn eine blinde Person als Person auftritt, wird sie eher selten als unfähig oder planlos dargestellt. (vgl. Witzfiguren). Sehr viel häufiger sind die blinden Personen besonders feinfühlig oder reflektiert. Auf der sprachlichen Ebene, egal ob im Nebensatz oder in der Überschrift, werden dann aber ganz andere Aussagen getroffen. Nicht selten kommt beides in ein und derselben Geschichte vor und nicht selten haben die blinden Personen die Aufgabe, Sehende von ihrer geistigen Blindheit zu heilen.

Es gibt aber auch Geschichten, in denen die Blindheit nicht nur auf der sprachlichen Ebene als Metapher genutzt wird, sondern blinde Personen für etwas stehen, so z.B. in dem Roman „Der Fall“. Hier tauchen immer mal wieder „Blinde“ auf, die weder handeln noch eine eigene Persönlichkeit haben. Sie wirken wie Statisten und stehen für „hilfsbedürftige Menschen“. (Camus, Albert: Der Fall, 1990)

In „Das Land der Blinden“ gerät ein sehender Mann in eine blinde Gesellschaft. Im Nachwort heißt es:

Er ist vielmehr der Sehende unter denen, die nicht sehen, der offene Verstand unter Konformisten, ein freier Geist in einer bourgeoisen Welt.
(Bernard Borgozoni, zitiert nach Rottensteiner, Franz in: Wells, L.G.: Das Land der Blinden, 1981, S. 294)

Ähnlich lässt sich auch „Die Augenbinde“ von Siegfried Lenz deuten, in der sich eine Gruppe Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mehr oder weniger erfolgreich dagegen wehrt, die Spielregeln einer blinden, d.h. nicht kritisch denkenden Gesellschaft anzuerkennen. (Lenz, Siegfried: Die Augenbinde, 1969)

In dem Theaterstück „Brut“ geht es um Sinn- und Ziellosigkeit, verkörpert durch einen blinden Steuermann. (Zschokke, Mattthias: Brut, 1991)

Insgesamt kommen aber Geschichten mit der Aussage: „Es gibt eine größere Blindheit als die organische Blindheit“ sehr viel häufiger vor als die, in denen blinde Menschen selbst Ahnungslosigkeit verkörpern.

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