Erblindung
Erblindung und die damit einhergehenden Veränderungen werden relativ häufig thematisiert. In den 1950er Jahren erschien in den Niederlanden eine Jugendroman über einen Jungen, der in eine Kalkgrube fällt und erblindet. (Rutgers, An: Das verlorene Licht), cirka 20 Jahre später erschien ebenfalls in den Niederlanden ein weiteres Jugendbuch über einen Jungen, der durch einen Unfall erblindet. (Haar, Jaap ter: Behalt das Leben lieb). Ab der Zeit wurde dieses Thema in der Jugendliteratur öfter aufgegriffen, variiert und aktualisiert. Diese Geschichten sind pädagogisch ambitioniert, sie sollen den Kindern und Jugendlichen zeigen, was es bedeutet, blind zu sein. Häufig werden sie als Schullektüre eingesetzt.
Der Aufbau ist weitgehend gleich: Eine jugendliche Identifikationsfigur erblindet, meist durch einen Unfall, schleichende Verschlechterungen wie z. B. bei Retinitis pigmentosa wurden erst in den vergangenen zehn Jahren beschrieben. Die blinde jugendliche Person ist zunächst am Boden zerstört, kann sich ein Leben mit Blindheit nicht vorstellen. Sie will keine Hilfe, zieht sich zurück oder wird aggressiv. Die Darstellung folgen meist dem Verarbeitungsmodell von Erika Schuchardt. (Schuchardt, Erika, 1987) Nach und nach beginnt die erblindete Person, sich zu öffnen und sich auf Hilfsangebote einzulassen. Gelegentlich werden konkrete Hilfsmöglichkeiten beschrieben. Am Ende der Geschichte blickt erblindete Person wieder optimistisch in die Zukunft.
„Sie hatte akzeptiert, dass sie sich neu erfinden musste. Was für ein Gefühl! Endlich konnte sie freier atmen.“ (Berger, Margot: Blindes Vertrauen, 2007, S. 153)
Mit dieser akzeptierenden und optimistischen Haltung enden noch weitere Jugendbücher.
Auch für ein erwachsenes Publikum gibt es mehrere Geschichten zum Thema Neuerblindung und Neuorientierung. Auch diese Geschichten beschreiben die Schwierigkeiten, die neue Situation zu akzeptieren und enden mit einem optimistischen Blick auf die Zukunft.
Die Verarbeitung und Akzeptanz einer Erblindung kann auch sehr komprimiert dargestellt und z. B. auf ein symbolisches Spiel reduziert werden. (Jens, Walter: Der Blinde, 1976)
Manchmal ist dieser Prozess aber auch nur oberflächlich angerissen, die Beschäftigung mit dem Thema Blindheit reißt genauso plötzlich ab, wie sie einsetzte, weil die blinde Person wieder sehen kann. (vgl. Heilung)
In zahlreichen Geschichten ist die Neuorientierung aber eher ein Nebenthema, im Grunde geht es um etwas anderes, nämlich um einen Kriminalfall. Die blinde Person kann dann Opfer (vgl. Opfer), Zeuge oder Ermittler (vgl. Zeugen, Zeuginnen und Ermittler) sein. In diesen Fällen muss das Erlernen neuer Orientierungsmöglichkeiten im Schnellverfahren geschehen, denn die Täterseite lässt keine Zeit, und die Anwendung der neuerworbenen Fähigkeiten ist von existenzieller Bedeutung. Für die psychische Verarbeitung bleibt dann wenig Zeit. Eher ist so, dass die Herausforderung am Ende hilft, sich selbst zu beweisen und somit das Selbstwertgefühl zu erneuern.
Andererseits kann die psychische Auseinandersetzung mit der Erblindung auch unerwartete Nebeneffekte haben: Ein egozentrischer Mensch wird plötzlich umgänglich.
Es gibt aber Romane und Filme, in denen diese Neuorientierung kein positives Ende nimmt.
So kann ein erblindeter Mann hilflos bleiben, Spielball seiner wenig wohlwollenden Umwelt. (Gesichter des Schattens, BRD 1984) (vgl. Opfer)
In wenigen Geschichten schaffen es die erblindeten Menschen nicht, ihre Blindheit zu akzeptieren, sie bleiben schlecht gelaunte Einzelgänger. Oder ein neuerblindeter Mann erlebt sein Leben als unnütz. (Montalembert, Hugues de: Das geraubte Licht, 1982) Im Extremfall beenden sie ihr Leben, indem sie sich in eine tödliche Gefahr begeben oder direkt Suizid begehen.
In diesen Beispielen haben fast ausschließlich sehende Autoren und Autorinnen die Neuerblindung beschrieben. Daneben gibt es auch autobiografische Bücher, die den Sehverlust darstellen.
Jacques Lusseyran beschreibt es als großes Glück, dass er als junges Kind erblindete.
„Ein kleiner Mann von acht Jahren hat noch keine Gewohnheiten, weder geistige noch körperliche. Sein Körper ist noch unbegrenzt biegsam, bereit, eben jene – und keine andere – Bewegung zu machen als die, welche ihm die Situation nahelegt, er ist bereit, das Leben anzunehmen, so wie es ist, zu ihm Ja zu sagen.“ (Lusseyran, Jacques: Das wiedergefundene Licht, 1983, S.16f)
Auch in dem autobiografischen Roman „Das Leben im Dunkeln“ ist der Protagonist im Grundschulalter erblindet und findet sich schnell in die neue Situation ein. Das zentrale Thema ist nicht die Erblindung, sondern das neue Leben im Internat und die Ausbildung blinder Kinder Ende des 19. Jahrhunderts. (Baum, Oskar: Das Leben im Dunkeln, 1909)
Ein anderer Mann konzentriert sich in weiten Teilen seiner Autobiografie auf das juristische Nachspiel und die Schuldfrage. (Luthmer, Konrad: Die Geschichte meiner Erblindung, 1897)
In einer weiteren Autobiografie beschreibt ein Mann, der aus einfachen Verhältnissen kam, als junger Mann sein Gehör verlor und sich in Kriegs- und Nachkriegszeiten durchboxen musste, seine Erblindung als ein zusätzliches Problem, das er zwar fürchtete, dem er aber vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit widmet. (Bogda, Helmut: Aus meinem Leben, 1996)
Michaela Eiben beschreibt, wie die Erblindung nach einem ersten Schock und dem Gefühl, es nicht wahrhaben zu wollen, ihre Kämpfernatur aktivierte. (Eiben, Michaela: Blind + blond = blöd, 2006)
Eckhard Seltmann stellt die Erblindung als Prozess voller Euphorie und Enttäuschung dar, vor allen Dingen aber wie er sich als Teil der Gesellschaft neu finden muss. Die Beschreibung der Erblindung ist deshalb eingebettet in eine Auseinandersetzung mit der Leistungsgesellschaft. (Seltmann, Eckhard: Maulwurf oder der Alleingang, 1992)
Ähnlich wie Seltmann verzichtet auch John Hull darauf, seine Autobiografie chronologisch zu schreiben. Er setzt sich bewusst von anderen Autobiografien ab, von denen er viele gelesen hatte.
„Diese Geschichten versetzten mich in Erstaunen: Sie waren voller Humor, Tapferkeit und Klugheit. (…) In der Mehrzahl waren es begeisternde Geschichten des Triumphs und der Versöhnung.“ (Hull, John M. : Im Dunkeln sehen, 1992, S. 11)
Seine Autobiografie ist ein Puzzle aus Alltagsbeschreibungen und Reflexionen, er lernt, seine Blindheit zu akzeptieren, aber anders als in fiktiven Geschichten gibt bei ihm keinen Höhepunkt und keine abschließende Lösung.
Literatur:
Erika Schuchardt:
„Kindersorgen“ mit-teilen lernen – auch ein Thema im Kinder- und Jugendbuch
in: Ammann, Wiebke u.a. (HG): Sorgenkinder – Kindersorgen. Behindert werden, behindert sein als Thema in Kinder und Jugendbüchern
Oldenburg : Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 1987
S. 13 - 17