Guibert, Hervé: Blinde
LES AVEUGLES, 1985
Reinbek : Rowohlt, 1986
99 S.
Roman
Die Geschichte spielt in einem Heim für blinde Menschen. In der Einrichtung verbringen die Bewohner und Bewohnerinnen ihr gesamtes Leben. Nach Kindheit und Schulzeit arbeiten sie dort in den unterschiedlichsten Bereichen. Außer dem Direktor gibt es keine sehenden Mitarbeiter.
Das Institut war Schauplatz eines unvermeidlichen Kreislaufs. Aus blinden Schülern wurden blinde Lehrer, aus Faulpelzen Saalkellner, und die Faulenzerinnen landeten in den Kantinen. (S. 33)
Doch möglicherweise lebt noch ein Wesen in der Einrichtung.
Es ging das Gerücht um, daß ein Mitglied des Lehrkörpers einem Sadisten Zutritt zum Institut verschaffte, der sich gern von Kindern berühren ließ und sie manchmal mit einigen der (…) Objekte in den Korridoren erschreckte. Man nannte ihn den Yeti, aber da schon vier Generationen seine Beschreibung weitergegeben hatten, war es durchaus möglich, und einige zuversichtliche Gemüter waren sich dessen sicher, daß dieser Schnee- und Höhlenmensch nur eine Legende war. (S. 50)
Im Mittelpunkt der Geschichte steht das Ehepaar Josette und Robert. Josette arbeitet auf der Krankenstation, Robert in der Küche. Ihr Lieblingsspiel ist Mikado, das sie mit Kerben gekennzeichnet haben. Der Verlierer darf am Ende den anderen stechen. Die eigentliche Geschichte beginnt damit, dass sie sich beide etwas kaufen. Robert kauft sich einen Motorradanzug, für den er keine Verwendung hat, und Josette zwei Paar weiße Mäuse. Eines Tages sticht sie einer Maus die Augen aus. Sie nennt sie Josette2 und erklärt sie zu ihrer Lieblingsmaus, ihrem Miniaturgegenbild. Ein neuer Mann kommt in die Blindenanstalt, der als Masseur angestellt ist. Taiger ist durch eine Granate erblindet und hat in seinem Leben schon viel mitgemacht. Sein Masseurdiplom hat er gefälscht, und seine Methoden sind brutal. Zwischen ihm und Josette entwickelt sich sofort eine leidenschaftliche sexuelle Beziehung. Auf seinen Wunsch kauft sie sich einen weißen Nerz, der Verkäufer schiebt ihr allerdings einen apfelgrünen zu. Josette trägt diesen Nerz nun ständig, verbotenerweise auch bei der Arbeit auf der Krankenstation. Aber das sieht ja niemand.
Schließlich will Josette Robert umbringen, und gemeinsam mit Taiger schmiedet sie Mordpläne. Doch bevor es zur Ausführung kommt, macht sie die Entdeckung, dass Taiger sie mit einem Jungen betrügt. Sie wendet sich daraufhin wieder Robert zu und warnt ihn vor Taiger. Das ist allerdings nicht mehr nötig, denn Robert hat inzwischen alles herausbekommen und weiß sich zu helfen. Bei dem Versuch, Robert umzubringen, kommt Taiger selbst ums Leben. Einige Tage nach seinem Tod begegnet Josette im Keller einem unheimlichen Wesen, das sie angreift.
Dann stürzte es sich auf Josette. Sie spürte auf Stirn und Schläfen zugleich die Nähe des Untiers, es war ein riesiges Tier, zwanzigmal größer als die Harfe, aber unförmig und mit einem elendig langen Hals versehen, daß es kriechen mußte, um nicht an Decke und Wänden zu stoßen. Josette blieb nur noch der Schlüssel, und sie hielt ihn dem Ungeheuer entgegen. Aber es war schon zu spät: Sie wurde geblendet von einem graugrünen scheußlichen Etwas, daß sie gen Himmel riß, sie zermalmte zerfetzte und aufraß. Das Lagodon hat sie wirklich mit Haut und Haaren verschlungen. (S. 99)
Im Klappentext heißt es:
Zwei Visionen prallen aufeinander: Der Erzähler wirft ein inneres Auge auf die besessenen Manien der drei Blinden, ihre Mikado-Partien und Säge-Concerti, ihre akrobatischen Sexualleistungen an Seil und Barren, ihre Phantasien und Träume. Und die „Weltsicht“ der Blinden, eine Welt, die durch Fingerspitzen ertastet wird und im Kopf ihre Zunge erhält, die an ihr leckt. In diesem Nebeneinander der Parallelwelten wird unsere Sichtwelt als verflacht entblößt. Sind wir, die sehenden Leser, die eigentlichen Blinden?