Gustafsson, Lars: Tante Clara
in: Lars Gustafsson: Onkel Knutte
Ravensburg : Otto Maier, 1991
Ersterscheinung 1977 (aus dem Roman von Lars Gustafsson: Sigismund)
S. 45 - 71
Erzählung
Vier der der fünf Erzählungen dieses Bandes spielen in den 1940er Jahren in einer ländlichen Gegend in Schweden. Aus der Sicht eines Jungen werden Erlebnisse mit verschiedenen Menschen dargestellt, die alle skurrile Antihelden sind.
In der Geschichte „Tante Clara“ geht es um zwei Menschen. Zum einen um Tante Clara, vor der der Ich-Erzähler besondere Ehrfurcht hat, weil sie vornehmer ist als alle anderen Erwachsenen. Tante Clara liebt einen angehenden Minister. Dieser heiratet eines Tages eines andere, was Tante Clara kaum verkraften kann.
Zum anderen gibt es in der Gegend einen blinden Lumpensammler, der Gottwold genannt wird.
Er war ein ziemlich kräftiger Mann und völlig blind. Vor seinen blinden Augen trug er eine uralte, blaugrüne Brille mit Stahlfassung, und vom Kinn hing ihm ein unbeschreiblich langer, grauschwarzer Bart herab, klebrig von schlecht verwerteten Eiresten und aus dem Mundwinkel triefendem Kautabak und Gott weiß was allem. Ich glaube, daß er bei einer Sprengung erblindet war – er hatte irgendwann in seiner Jugend im Hüttenwerk von Ramnäs gearbeitet.
Jetzt zog er auf den Landstraßen umher, blind und tastend (...). (S. 57)
Die Menschen in der Umgebung respektieren ihn, kaufen ihm seine Sachen ab und servieren ihm Kaffee, Saft und ihre besten Kekse. Im Jahr 1945 kommt er genau zu dem Zeitpunkt zu Tante Clara, als sie großen Liebeskummer hat.
Und nun geschah das Unglaubliche: Tante Clara stürzte auf ihn, fast als wäre der verlauste, blinde Landstreicher ihr Vater, barg ihr weinendes Gesicht irgendwo an seiner schrecklichen Jacke, verschwand mit ihren sanften Schultern irgendwo in seinem langen Bart. (S. 64)
Tante Clara verlässt von einem Moment zum anderen ihre gutbürgerliche Existenz, um mit Gottwold zu ziehen und ihn zu führen.
Überall wurden sie mit einer eigentümlichen Ehrfurcht aufgenommen, mit dieser tiefen Ehrfurcht, die nur totale, die vollkommene Liebe in den Menschen wecken kann. Ohne zu übertreiben könnte man sagen, daß sie ein Licht über die ganze herbstliche Gegend warfen. (S. 67)
Als Gottwold nach mehreren Jahren stirbt, finden sich in seinem Nachlass mehrere handgeschriebene Romane von beachtlichem literarischem Wert. Einer beschreibt die Liebesbeziehung zu Clara. Niemand hat von diesen Manuskripten gewusst.
Obwohl Gottwold ein äußerlich verkommener Mann ist, weckt er keine Erinnerung an die armseligen, blinden Bettler aus früheren Zeiten. Das Auffallende an ihm ist seine Würde.
Ohne diese Sprengung wäre vielleicht etwas Besonderes aus ihm geworden.
Und man könnte ja sagen, daß er ohnehin etwas Besonderes war. (S. 60)„Gottwold ist so ein lieber und feiner Mensch. Weißt du, er ist wirklich ein bemerkenswerter Mann, ein bemerkenswerter junger Mann“, pflegte Großmutter Thekla zu sagen. (S. 68)
Für das „Besondere“, das „Bemerkenswerte“, das einige Leute schon zu seinen Lebzeiten an ihm feststellen, gibt es keine Erklärung. Die große Leistung, die der Ich-Erzähler benennt, sind die Manuskripte, und die wurden nach seinem Tod gefunden. Die Blindheit ist nicht das Thema dieser Geschichte, sie ist nur eine Eigenart von Gottwold, zieht sich allerdings wie ein roter Faden, ein Erkennungsmerkmal durch die Handlung. Im Mittelpunkt steht die „unglaubliche“ und alle sozialen Schranken überwindende Liebe.