Haun, Ernst: Jugenderinnerungen eines blinden Mannes
Stuttgart : Robert Lutz, 1920
Ersterscheinung 1918
304 S.
Autobiografie
Ernst Haun, geboren 1879, wächst als Sohn wohlhabender und liebevoller Eltern auf. Als kleiner Junge stürzt er und wird bewusstlos. Der Arzt stellt eine Gehirnerschütterung fest. Etwas später bemerkt ein Kindermädchen, dass er auf dem linken Auge blind ist, später lässt auch das Sehvermögen auf dem rechten Auge nach. Die Eltern fahren zu einem Augenarzt und der stellt einen Sehnervenschwund fest. Er vergleicht es mit einer Pflanze, die vertrocknet.
Ernst kommt in die Volksschule im Dorf, wird aber vom Lese- und später auch vom Schreibunterricht befreit. Das empfindet er als Vorteil, dagegen kränkt es ihn, dass er im Anschauungsunterricht bei den schwächsten Schülern sitzen muss. Er strengt sich dadurch doppelt an.
Da die Augenärzte nicht mehr helfen können, gehen die Eltern mit ihm zu einer „weisen“ Frau. Offensichtlich ist das den Eltern aber auch peinlich, denn sie wählen nicht die öffentlichen Wege, sondern Feldwege. Ernst bemerkt es und bezieht es auf sich und seine Augen.
Und plötzlich wußte ich: ich muss mich meiner Augen wegen schämen, ich war mit etwas Schlechtem behaftet. (S. 122)
Nun wird Ernst seine Sehbehinderung immer bewusster, aus dem fröhlichen Kind wird ein unsicherer Junge, der sich für sich selbst schämt. Er versucht seine Sehbehinderung zu vertuschen. Die anderen Kinder fangen an, ihn zu hänseln, und er sucht Trost in der Religiosität.
Ein stilles, noch ganz winzig, enges Glück war in mir erkeimt, das Bewußtsein nämlich: du hast dein eigenes Haus! Du hast deinen eigenen Boden, auf dem du hausen magst in Frieden, aus dem dich niemand, niemand in der weiten Welt verdrängen kann. (S. 133)
Später geht ein blinder Mann durch den Ort, die anderen Kinder verspotten ihn. Ernst hilft dem Mann und bekennt sich in diesem Moment bewusst dazu, zur Gruppe der blinden Menschen zu gehören. Das löst widersprüchliche Gefühle bei ihm aus; er weiß, dass er das Richtige tut, und leidet unter der Ausgrenzung durch die anderen Kinder.
1887 kommt er in die Blindenanstalt Stettin. Da der Direktor ein entfernter Verwandter ist, lebt er als Gast in der Direktorenfamilie, genießt dabei einige Privilegien, nimmt aber am Unterricht der Zöglinge teil. Auch hier taucht wieder die alte Unsicherheit auf. In der Blindenschule lernt er Lesen und Schreiben, das macht ihn geradezu euphorisch. Zuerst lernt er die erhabene Schwarzschrift, später die Punktschrift. Allmählich wird er immer mehr zu einem der Zöglinge; in den Ferien zu Hause empfindet er seine Blindheit doppelt belastend.
In der Anstalt merkte ich kaum einmal, daß ich abnorm sei, denn da waren ja Blinde Normale, Sehende aber abnorme. Hier war das umgekehrt. (S. 185 f.)
Auch die Eltern bekommen Probleme, ihre Fabrik macht zunehmend Verluste, sie müssen Konkurs anmelden.
Wegen einer Gesichtslähmung kommt Ernst eine Zeitlang in ein Krankenhaus, wo er als blindes Kind bedauert wird.
Und hätten diese Damen in Halle, statt nutzloses Mitleid in langen Litaneien zu geben, mir frisch und munter beschrieben, was sie sahen um sich her, dann hätte ich es auch rasch und schön mit dem Auge der Phantasie gesehen, hätte gesehen durch ihre Augen, sie hätten mich sehend gemacht. (S. 202)
Später kommt Ernst in die Blindenanstalt Steglitz, weil er dort mehr lernen kann. Doch trotz besserer Schulbildung sieht auch dieser Direktor nur wenige Perspektiven, und so erlernt Ernst nach der Schule das Seilerhandwerk. In dieser Zeit zieht er auch in ein eigenes Zimmer im Männerwohnheim und genießt die neuen Freiheiten. Er geht viel aus, erlebt seinen ersten Vollrausch, was von den Ausbildern verständnisvoll zur Kenntnis genommen wird.
Schwieriger ist allerdings der Kontakt zu den Mädchen, es herrscht strenge Geschlechtertrennung. Trotzdem schafft er es, sich in ein Mädchen zu verlieben. Die Seilerarbeit erlebt er zwiespältig. Auf der einen Seite erfüllt es ihn mit Stolz, richtige Männerarbeit zu leisten, auf der anderen Seite füllt es ihn nicht aus. Er übernimmt die Leitung des Seilerchores, beginnt heimlich zu dichten und zu komponieren. Sein erstes Singspiel wird aufgeführt, er sagt allerdings nicht, dass es von ihm ist. Das Stück wird ein großer Erfolg, und danach will er Musik studieren. Der Direktor hat zunächst Bedenken, aber seine Eltern unterstützen ihn.
Damit endet die Autobiografie. Aus dem Vorwort wissen die Leserinnen und Leser, dass Haun als Musiker erfolgreich wurde, bis er ertaubte. Auch das entmutigte ihn nicht.
Nun, ich nehme an, daß ich noch einige Jahre hindurch leidlich mich verständigen können werde. Na, und was dann kommt? Wer kann es sagen? Ich mache mir darüber kein Kopfzerbrechen, weiß ich doch aus persönlichster Lebenserfahrung, daß es immer besser wird, als man glaubt. Ich werde Romane, Dramen, Lustspiele schreiben und werde damit diesem sinnige Vertiefung, jenem herzliches, frohes Lachen bringen. Gibt es ein schöneres Wirken in der Welt? Ich werde nützlich sein; und nützlich sein ist glücklich sein! (S. 20)