Jens, Walter: Der Blinde
in: Walter Jens: Vergessene Gesichter
München : Piper, 1976
Ersterscheinung 1951
S. 247–320
Roman
Heinrich Mittenhaufen, Lehrer, erfährt nach einer Scharlacherkrankung, dass er blind bleiben wird. Er reagiert scheinbar gelassen, in Wirklichkeit zieht er sich aber ganz in ein Spiel zurück, das ihm ein Freund, Moses Matthäus, geschenkt hat. Es ist ein Baukasten mit kleinen Steinchen, die Menschen oder Gebäude symbolisieren und zu denen er sich Geschichten ausdenkt, die für ihn an die Stelle von wirklichen Kontakten treten. Als der Freund merkt, dass das Spiel für Heinrich Mittenhaufen die Wirklichkeit ersetzt, erzählt er ihm die Geschichte des Spiels.
Ein Mann, mit dem er zusammen im KZ war, hat es geschnitzt, und sie haben es gemeinsam allabendlich gespielt, um damit gegen Resignation und Verzweiflung anzukämpfen. Matthäus nennt drei Bedingungen, die an das Spiel geknüpft sind:
– man darf es nur spielen, wenn man nicht anders kann
– man darf nur spielen, um Hoffnung zu schöpfen
– man darf nur spielen, was in der Zukunft liegt und was man glaubt, einmal verwirklichen zu können
Solange Mittenhaufen im Krankenhaus ist, schafft er es, nicht mehr zu spielen. Nach seiner Entlassung zieht er sich zurück. Es ist ihm unangenehm, sich auf der Straße mit Menschen zu unterhalten, die ihn kennen, die er aber nicht an der Stimme erkennt. Solange es geht, weicht er der ersten Begegnung mit seinen Kindern aus. Er fühlt sich unsicher und fängt wieder an zu spielen. Aber das Spiel klappt nicht mehr. Im Krankenhaus konnte er sich beim Spielen noch alles vorstellen, so, als würde er es sehen. Nachdem er in der Straßenbahn, auf der Straße und in der Wohnung seine Orientierungslosigkeit erlebt hat, hat er diese Möglichkeit nicht mehr.
Auch im Spiel konnte er nur noch durch die Augen eines Blinden sehen. Er ballte die Hände zusammen. Im Krankenhaus hatte alles ganz leicht ausgesehen, aber die Fahrt mit der Straßenbahn, die Schritte im Treppenhaus und der Gang durch das Zimmer hatten seinen Traum zerstört. (S. 299)
Der Freund nimmt Mittenhaufen noch am selben Abend mit zu einem anderen Freund, der das Spiel im Lager mitgespielt hat. Mittenhaufen erfährt, dass dieser Mann ebenfalls blind ist, geburtsblind, und dass er einen zweiten Baukasten hat. Er überlässt ihn Mittenhaufen.