Baum, Oskar: Grenzen
in: Oskar Baum: Uferdasein
Berlin : Juncker, 1909
S. 11–98
Erzählung
Der blinde Peter Grune ist entschlossen, in Wien eine Organistenstelle anzutreten. Alle Argumente seiner Familie, die nicht glaubt, dass er als Blinder selbständig sein kann, bringen ihn nicht von seinem Plan ab. Schon auf der Fahrt nach Wien macht er die Bekanntschaft einer jungen Frau. Betty erzählt ihm aus ihrem Leben und von ihren Liebesabenteuern. Peter weiß von diesen Dingen wenig. „Wie lückenhaft doch unsere Erziehung ist!“ (S. 22), denkt er. Doch er holt nach – mit Betty, die ihm auch ein Zimmer im Haus ihrer Herrschaft vermittelt. Später gerät er bei dem Versuch, Betty zu küssen, an Dorothea, eine weitere Angestellte des Hauses. In der Zeit lernt er noch Landra, die Tochter des Landesschulinspektors kennen. Sie besucht ihn, um ihm Noten vorzulesen. Peter verehrt sie, doch es ist eine rein platonische Liebe. Finanziell geht es ihm immer schlechter, Privatschüler bleiben aus, sodass er sich immer mehr einschränken muss. Schließlich wird ihm sein Zimmer gekündigt. Am letzten Abend hat er noch eine Verabredung mit einem Dr. Pizz, der ihm einen Kredit versprochen hat. Dr. Pizz ist ebenfalls ein Verehrer von Landra. Er kommt, völlig aufgebracht, weil Peter angeblich Landra zu einer Verlobung überredet hat. Peter weiß nichts davon und verspricht Dr. Pizz, Landra von dieser Idee abzubringen. Insgeheim ärgert er sich aber darüber, dass von ihm ein solcher Verzicht erwartet wird. Aber er bleibt bei der von ihm geforderten Haltung. Er sagt Landra, dass er ihr ein solches Opfer nicht zumuten will und den Gedanken an Dankbarkeit unerträglich findet. Landra bleibt bei ihrem Wunsch und wird auch von ihrem Vater unterstützt. Nach der ersten gemeinsamen Nacht gesteht Landra ihm, wie sehr sie die Vorstellung an eine Nacht mit einem sehenden und sexuell erfahrenen Mann geängstigt hat.
„Du bist so unberührt ... und siehst du ...“ Sie verbarg ihr Gesicht an seinem Halse. „Ich-ich hätte einem Manne nie in die Augen sehen können, der, weiss Gott was gedacht und meinen Leib betrachtet hätte. Und ... Du, mein Alles, sieh…“ Sie küsste ihn, bis ihn die Lippen schmerzten. Zögernd sagte er: „Das glauben viele, mein Lieb!“ „Nein, nein!“ Es schüttelte sie, „ich hätte nie den Versuch gewagt.“ „Mein Glück!“ Er drückte sie an sich und fühlte: „Die haarschmale Grenze zwischen dem, wofür wir uns halten und dem, was wir sind.“ (S. 98)