Koch, Jurij: Schattenrisse
Stuttgart : Spectrum, 1990
Der Roman erschien 1988 im Verlag Neues Leben.
183 S.
Jugendroman
Gerat Lauter, kurz vor seinem Schulabschluss, fällt immer und überall aus dem Rahmen, weil er zu jedem Thema ehrlich seine Meinung sagt, ohne Rücksicht darauf, wie dies bei Eltern, Lehrern und Vorgesetzten ankommt. Gerats Vater gibt sich alle Mühe, für seinen Sohn eine Lehrstelle als Montageschlosser zu finden, doch Gerat macht alle Bemühungen zunichte – er will nicht. Er sucht sich eine Lehrstelle bei den Stadtwerken und fängt an, auf der Mülldeponie zu arbeiten. In der Zeit beginnt er ein Verhältnis mit seiner ehemaligen Lehrerin Claudia. Als er eines Abends auf der Deponie kontrollieren will, ob es brennt, belauscht er ein Gespräch zwischen zwei Kollegen und einem dritten Mann. Es geht um die Verschiebung eines Industriedenkmals in den Westen. Die drei Männer, der dritte ist Claudias Mann, bemerken Gerat. Sie verprügeln ihn und werfen ihn in ein Bassin mit Kalklauge. Gerat kann sich befreien, aber seine Augen sind verätzt.
Meine Augen sind zwei Milchglaskugeln. Man sieht ihnen die irrsinnige Bemühung an, etwas von der Welt wahrzunehmen. Als Schatten und weniger Schatten. Professor Hedderoth sagt, ich habe gekochte Fischaugen. Gekochte Fischaugen klingt viehisch, vor allem aus seinem Munde. Als ich‘s zum ersten Mal hörte, dachte ich, der Mann ist bescheuert. Hat jedes Gefühl verloren. Für das, was in einem vorgeht, wenn man sich mit solchen Augen vorstellt. Macht sich lustig über das Elend, das ihm täglich vorgeführt wird. Schottet sich ab mit Humor. Ist aber nicht. Gekochtes Fischauge ist Fachausdruck. Manchmal drückt sich die Medizin ländlich aus. (S. 5)
Gerat muss sich ein paar Monate gedulden, dann wird er operiert. Er erhält neue Hornhäute für seine Augen. Die Chancen, damit wieder sehen zu können, stehen fünfzig zu fünfzig.
Die Geschichte ist nicht chronologisch erzählt. Sie beginnt damit, dass Gerat auf die Operation wartet. Das Warten auf Heilung, oder auf Klarheit, wie es heißt, ist die Rahmenhandlung. Während dieser Wartezeit schildert Gerat in vielen Rückblenden seine Entwicklung, von dem Moment an, als er anfing, sich kritisch mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. Der Roman endet damit, dass er sich von Claudia abwendet. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, ob er wieder sehen wird oder nicht.
Das Thema Blindheit wird nur auf wenigen Seiten behandelt, zieht sich aber wie ein roter Faden durch die Geschichte. Im Vordergrund stehen das Warten und die Ungewissheit. Die psychische Verarbeitung wird kurz angerissen, die Darstellung der Alltagsorganisation entfällt.
Das zentrale Thema dieses Romans ist die veränderte Sichtweise der gesellschaftlichen Strukturen. Sehen, Nichtsehen und Klarsehen sind Begriffe, die sowohl auf der konkreten Ebene als auch im übertragenen Sinne immer wieder gebraucht werden.