Kuusisto, Steven: Der Planet der Blinden
PLANET OF THE BLIND
München : Karl Blessing, 1998
251 S.
Autobiografie
Stephen Kuusisto wird 1955 drei Monate zu früh geboren. Sein Zwillingsbruder stirbt, er überlebt fast blind. Seine Eltern wollen das nie wahrhaben, sie erziehen ihren Sohn dazu, so zu tun, als ob er sehen könnte. In der Regelschule lernt er nur lesen, weil die Lehrerin ihm nach der Schule noch Privatstunden gibt. Freunde findet er nicht, er ist viel allein und isst sich ein beachtliches Übergewicht an. „Fettwanst“ und „Blindschleiche“ nennen ihn die anderen Kinder. In der Pubertät hungert er fast bis zur Magersucht ab und er gewinnt auch Freunde, aber sein Hauptproblem bleibt. Er sieht fast nichts, tut aber so, als ob. Nach der Schule studiert er Literatur. Das liegt ihm, aber es überfordert ihn auch. Um sein Pensum zu schaffen, muss er viel lesen, mit seinen Augen schafft er jedoch nicht mehr als zwanzig Minuten am Stück. Die Hochschullehrer nehmen keine Rücksicht darauf.
Jahrelang bin ich durch die Lehrpläne der höheren Bildung gestolpert, stets einen Monat hinter der vorgegebenen Lektüre herhinkend. Als außerplanmäßiger Professor habe ich es mit Hilfe der Studenten und starker Medikamente geschafft. (S. 189)
Nach einigen Jahren Professorentätigkeit wird er arbeitslos. Deprimiert und hoffnungslos verbringt er seine Zeit zu Hause, trinkt, zupft sich seine Körperhaare aus, erinnert sich an alte Freunde, die mittlerweile alle ihr eigenes Leben organisiert haben, und zieht Bilanz.
Dann rufe ich die Telefonvermittlung an und frage nach der Nummer der Blindenkommission des Staates New York. Ich brauch dringend Hilfe, wenn es weitergehen soll. Wenn ich weitergehen soll.
Ich habe mein ganzes Leben lang Hilfe gebraucht.
So einfach ist das. (S. 189/190)
Er lernt, mit dem Stock zu laufen, aber das reicht ihm als Sicherheit nicht. Er möchte einen Blindenhund.
Als wir von der Bordsteinkante hinuntersteigen, rast ein grüner Chevrolet über die Ampel. Eine hellumrandete, tödliche Wolke. Mike zieht mich zurück.
Wir stehen in der kalten Luft und klauben unsere fünf Sinne zusammen. Wir fühlen uns reich an Adrenalin.
Ich habe mir vorgestellt, daß der Blindenstock einen zivilisierenden Einfluß auf den Verkehr haben wird, und in gewisser Hinsicht ist das auch so. Trotzdem sind die Fahrer dieser Welt nicht wie Musiker in einem Orchester, und mein Taktstock fesselt einfach nicht jedermanns Aufmerksamkeit. Hier draußen herrscht Gefahr. Ich brauche etwas Mächtigeres als den Stock. Ich brauche Augen. Jetzt, da ich nach meinem Coming-out für jeden ersichtlich blind bin, hat der Stock getan, was er konnte. Ich denke: Hund. (S. 198)
Vier Wochen verbringt er in einer Führhundschule, er muss hart lernen, aber er genießt auch das Leben in einer Umgebung, die auf Blindheit eingestellt ist und in der er mit anderen blinden Menschen über ähnliche Erfahrungen reden und lachen kann.
Er empfindet es als Erleichterung und als Entlastung, es fällt ihm aber nicht immer leicht, dem Hund wirklich zu vertrauen.
Insgeheim denke ich. „Was, wenn der Hund einer Selbstmördersekte angehört?“ (S. 224)
Nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit erhält er eine Stelle bei der Führhundschule, wo er in der Verwaltung arbeitet. Blindheit ist für ihn immer noch kein Zuckerschlecken, aber auch kein Weltuntergang.
In Wirklichkeit haben wir gelernt, daß wir für niemanden ein Symbol darstellen müssen. Es reicht, an würdevolles Reisen und an eine Zukunft zu glauben, die uns etwas bieten kann. (S. 249)
In der Zeit, in der er anfängt, seine Blindheit zu akzeptieren, stellt er sich ein Fernsehprogramm für Blinde, dann einen ganzen Planeten der Blinden vor.
Auf dem Planeten der Blinden braucht niemand geheilt zu werden. Blindheit ist eine Form von Musik, wie die Soloklarinette im Kopf von Bartók.
(...)
Hier bieten Personenverwechslungen keinen Anlaß zu Spott, stattdessen entdecken die Verwechselten, ohne beleidigt zu sein, neue und freundliche Nachbararme zum Berühren.
(...)
Es gibt keinen Hunger im Bauch oder in den Augen.
Und die Möbel sind immer weich. Tische und Stühle stehen nie im Weg. (…) Auf dem Planeten der Blinden ist Selbstverachtung ein Museum. (S. 196)
Im Vorwort nimmt er vorweg, wie dieser Planet in der Realität aussehen kann.
Ein Bankangestellter hat sich angeboten, mich zum Zug zu bringen. Ich halte sanft seinen Ellbogen, Corky dicht neben uns, und wir steigen hinab in den Tunnel unter dem Gebäude. Ich habe beschlossen, einem Fremden zu vertrauen.
Willkommen auf dem Planeten der Blinden. (S. 10)