Baum, Oskar: Von den Tagen des Arbeitslosen
in: Oskar Baum: Uferdasein
Berlin : Juncker, 1909
S. 99–143
Erzählung
Bertl Erflinger hat im Blindeninstitut die Bürstenbinderei gelernt. Ihm macht der Beruf aber keinen Spaß und auch seine Mutter meint, dass ihr Sohn einen solchen Beruf nicht nötig habe. Schließlich hat er ein kleines Erbe, von dessen Zinsen er gut leben kann. Bertl sitzt nun den ganzen Tag zu Hause und lässt sich von seiner Mutter vorlesen bzw. Geschichten erzählen. Die Mutter wird für ihn zum einzigen Kontakt zur Außenwelt und ärgerlich, fast eifersüchtig registriert er, dass die Mutter noch mit anderen Leuten verkehrt.
Aber, wenn man sich gerade warm in eine geschilderte Situation eingesponnen hatte, und es hieß plötzlich „Besuch ist da!“ Die Frau Steuerinspektor oder die Frau Regimentsarzt oder die Frau Oberingenieur – und sie kamen, setzten sich, waren herzlich und behandelten Themen von unerhörter Gleichgiltigkeit so liebevoll, so hartnäckig, dass ihm manchmal der Verdacht aufkam, es sei eine absichtliche Feindseligkeit von irgendeiner Seite. (S. 103)
Umgekehrt bindet die Mutter den Sohn fest an sich.
Sie liebte und verzärtelte ihn als ihren einzigen Lebensinhalt. Die vielen Jahre ihrer Witwenschaft waren so grausam leer und tot gewesen. Sie war ihm dankbar, dass er überhaupt da war und es bei ihr aushielt, ohne Murren und Gähnen. (S. 105)
Zuerst liest Bertl noch selbst einige Braille-Bücher, aber auch das verbietet ihm die Mutter, nachdem sie in einigen Büchern Blutspuren entdeckt hat. Damit ist ein weiteres Stück Unabhängigkeit von der Mutter untergraben. Die Mutter ahnt allerdings nicht, dass Bertl ihr oft gar nicht so andächtig zuhört, wie sie meint, dass er immer häufiger in seine Fantasien abschweift. In diesen Tagträumen kommen immer wieder Frauen vor, die ihn lieben, und er selbst ist in diesen Träumen aktiver Held. Einmal, als er so ganz in seiner Traumwelt lebt, merkt es seine Mutter und spricht ihn darauf an. Bertl erzählt von seinen Träumen, aber die Mutter wiegelt ab.
„Aber Kind!“ Sie streichelte seine Haare. „Du brauchst ja keine Ehe und keinen Hausstand. Das bringt nur Sorgen und Aufregungen. Sei froh, dass du das nicht haben musst!“ Sie küsste seine Augen. „Ich bin deine Braut.“ (S. 126 f.)
Bertl kann Traum und Wirklichkeit immer weniger auseinanderhalten und hält seine Mutter für seine Geliebte und zieht sie nachts in sein Bett. Die Mutter reagiert entsetzt, schuldbewusst und nimmt sich schließlich das Leben.