Langgemach, Renate: Schnee hinter den Augen
Hamburg : Contra-Bass, 2017
201 S.
Roman
Marlen, die Ich-Erzählerin, ordnet den Nachlass ihrer Mutter; der kriegsblinde Vater, Paul, ist bereits vor einigen Jahren verstorben. Während sie die Sachen ihrer Eltern sortiert, bringt der Postbote ein Paket von einem unbekannten Absender; darin findet sie eine Kamera aus den 1930er Jahren und eine Karte mit der Aufforderung, Kontakt zu einer Frau namens Agnes aufzunehmen.
Sie besucht sie im Altersheim und erfährt nach und nach, dass Agnes als junge Frau in Paul verliebt war, dann kam der Krieg und mit dem Krieg eine erste Entfremdung. Als der Vater erblindete, schrieb er als Erstes seiner Freundin Agnes. Er teilte ihr seine Erblindung mit und machte ihr gleichzeitig einen Heiratsantrag.
Du bist die Frau, die ich nicht vergessen kann und die ich bitte, mich durchs Leben zu führen. Ich brauche dich jetzt. (S. 84)
Doch Agnes traute sich das nicht zu.
Ich konnte mir nicht vorstellen, einen Mann ohne Augen im Schlepptau zu haben. (S. 96)
Paul nahm das hin und wandte sich kurz darauf an eine junge Frau, die ihm während seiner Soldatenzeit als Brieffreundin zugeordnet worden war und die er zweimal besucht hatte. Diese andere Frau, Clara, Mutter der Ich-Erzählerin, war sofort bereit, ihn zu heiraten.
Das ist eine harte Erkenntnis für Marlen, die immer an die große Liebe der Eltern geglaubt hat und sich nun klar macht, dass ihre Mutter die zweite Wahl, die Notlösung, war.
Er ging pragmatische Wege, erfand den Mythos seiner tapferen Frau, die sich der Aufgabe stellte, die der Soldat nach geleistetem Einsatz nach Hause brachte. (S. 87)
Jahre später, Paul arbeitete als Lehrer an einer Blindenschule und hatte Familie, fand Agnes einen Artikel über Paul, den blinden Lehrer, in der Zeitung. Sie war mittlerweile geschieden und bereute ihre damalige Absage. Agnes fuhr zur Schule, beobachtete ihn, wie er von der Schule nach Hause fuhr, und setzte sich wortlos in dieselbe Bahn. Sie verfolgte ihn tagelang, bis sie sein Leben kannte. Eines Tages gab sie sich zu erkennen. Über mehrere Jahre hatten sie eine heimliche Affäre.
In den folgenden Jahren führte der Vater zwei Leben, nach der Schule traf er sich mit Agnes und seiner Frau erzählte er von Nachmittagsstunden und Lehrerkonferenzen. Zu Hause und im Urlaub führte er sein Familienleben weiter. Die Tochter wusste von alledem nichts, fragte sich aber, während ihr Agnes stückweise die Geschichte erzählt, was ihre Mutter wohl geahnt hat.
Sie nimmt Agnes‘ Lebensbeichte zum Anlass, ihre Kindheit mit ihren Eltern zu reflektieren.
Mein Vater war ein blinder Vater, das war so und damit basta, Punkt. Dass andere Väter sehen konnten, hielt ich für deren Sache. (S. 43)
Von klein auf lernt sie, wie das Essen auf dem Teller angerichtet sein soll, dass sie Ordnung halten muss, damit ihr Vater die Dinge wiederfindet, und dass sie ihn führen und ihm alles beschreiben muss.
Selbst wenn es absurd klingt: Ich habe von meinem Vater sehen gelernt. (S. 179)
Marlen, die von ihrem Vater den Kosenamen Lilly erhielt, hatte ein enges Verhältnis zu ihrem Vater. Sie bewunderte ihn, auch wenn er im Umgang manchmal schwierig war, weil er zu Jähzorn neigte und wegen Kleinigkeiten Wutausbrüche bekam.
Weil ihm seine Ausbrüche Leid taten – manchmal sagte er, er wüsste selbst nicht, wie ihm geschah – brachte er mir Schokolade, die berühmte mit Erdbeerfüllung von Suchard, die für mich bis heute für den Jähzorn steht, den vielleicht tausende Kinder von ihren Kriegsvätern auszuhalten hatten, deren innere Gemächer nicht aufzuräumen waren. (S. 130)
Marlen besucht Agnes einige Male, lässt sich deren Geschichte Stück für Stück erzählen, bis die alte Dame kurze Zeit darauf auch stirbt und Marlen gelernt hat, das Verhältnis zu ihrem Vater neu zu verstehen.