Lavant, Christine: Das Kind

Stuttgart : Brentano, 1948
52 S.
Erzählung

„Das Kind“, ein Name wird nicht genannt, stammt aus einer armen Familie. Es ist noch sehr jung, geht aber offensichtlich schon zur Schule. Das Kind ist stark kurzsichtig und kann in fremder Umgebung vieles nicht erkennen.

Da ist ein langer Gang. Und er hat weißgestrichene Türen rechts und links – viele weißgestrichene Türen. Oben, ganz hoch oben, wo vielleicht schon der Rand vom Himmel anfängt, ist etwas Schwarzes. Was dieses Schwarze ist, wird man vielleicht einmal wissen, wenn man gestorben ist, weil: dann weiß man alles. So denkt das Kind, das schwer kurzsichtig ist und von der nummerierten Tür nichts weiß. (S. 7)

Der Gang mit den weißgestrichenen Türen gehört zu einem Krankenhaus, in dem das Kind einige Zeit ist. Es erlebt dieses Krankenhaus als fremde, unverständliche, oft bedrohliche Welt. Immer wieder vergleicht es das, was es dort erlebt oder was die anderen Kinder erzählen, mit seinem eigenen Zuhause. Besonders haben es ihm die Gläseraugen des Arztes angetan. Offensichtlich handelt es sich hier um eine Brille, aber das Kind kann die Augen des Arztes dahinter nicht erkennen. Es vermutet, dass der Arzt sie einem blinden Kind geschenkt hat.
Unablässig ist das Kind von Ängsten geplagt, ob es genug gebetet habe oder gegen keines der religiösen Gebote verstoßen habe. Doch auch um das Seelenheil seiner Mitmenschen macht es sich unentwegt Sorgen. Am meisten verehrt es den Arzt, bis es hört, dass er – wie das Kind meint – abfällig über seine Schwester spricht. Vorübergehend gerät die Welt des Kindes ins Wanken, bis es am Ende erkennt, dass der Arzt doch ein „Gerechter“ ist. Da ihm die Situation im Krankenhaus unerträglich erscheint, will das Kind fliehen, doch vorher kommen Mutter und Schwester und holen es ab. Das Kind erkennt sie erst, als sie es ansprechen.
Es wird nicht ganz deutlich, weshalb das Kind im Krankenhaus ist. Es hat überall Wunden, die verbunden werden müssen, wie es heißt, eine „Arme-Leute-Krankheit“ (S. 11).  Möglicherweise ist es auch eine Augenklinik, weil das Kind Augenschmerzen hat und die anderen Kinder an den Augen behandelt werden, zwei Kinder sind fast blind. In erster Linie geht es um Arm und Reich und um die religiösen Vorstellungen des Kindes, auch wenn Augenschmerzen und Augenbehandlungen immer wieder vorkommen. Die Kurzsichtigkeit spielt scheinbar nur eine untergeordnete Rolle, und das entspricht wohl auch der eigenen Einschätzung des Kindes. Ständig hadert es mit seinem Schicksal, mit Gott. Es möchte seine Lebenssituation, sein Aussehen und die Lage seiner Mitmenschen verbessern und ist bereit, in anderen Bereichen zurückzustecken.

Wenn bloß der Zauber stark genug für alles ist? Eigentlich: die Augen können ja so bleiben, wie sie sind. (S. 17)

 

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