Lessing, Doris: Das goldene Notizbuch

THE GOLDEN NOTEBOOK, 1962
Frankfurt : Fischer, 1982
633 S.
Roman


Anna, geschieden, lebt in der 1950er Jahren mit ihrer Tochter in London. Ihre Freundin ist Molly, ebenfalls geschieden, mit einem fast erwachsenen Sohn. Anna schreibt Tagebücher, die nicht chronologisch, sondern nach Inhalten geordnet sind. Die Themen dieser Tagebücher – und damit auch die Themen des Romans – sind die politischen Verhältnisse, besonders die Situation der kommunistischen Partei, und das Verhältnis zwischen Männern und Frauen.
Zu Beginn des Romans vergleicht Anna Tommy, den Sohn ihrer Freundin, mit einem blinden Mann, den sie einmal in einem Zug getroffen hat.


So war sein Mund gewesen: ziemlich rund und kontrolliert, ein weiches, selbstversunkenes Schmollen. Und so waren seine Augen gewesen: den Augen Tommys vergleichbar, die stets so aussahen, als seien sie nach innen gewandt, selbst wenn er jemanden anschaute. (S. 53)


Tommy ist ein verschlossener junger Mann, der viel grübelt, sich in linken Kreisen engagiert, aber keine berufliche Perspektive entwickelt. Sein Vater, ein reicher Geschäftsmann, macht sich deshalb Sorgen um ihn. Mit zwanzig Jahren unternimmt Tommy einen Selbstmordversuch. Er überlebt, aber sein Sehnerv ist beschädigt, danach ist er tatsächlich blind. Er nimmt es ruhig, fast gleichgültig hin, im Gegensatz zu den Erwachsenen, die darüber in Streit geraten. Er lehnt es ab, sich in einer Spezialeinrichtung für Neuerblindete schulen zu lassen, die Punktschrift lernt er allein zu Hause und ansonsten möchte er möglichst wenige Änderungen. Doch er selbst ändert sich und auch seine Stellung im Haus.


Anna rief Molly, abgesehen von den ganz praktischen Gründen, niemals an, weil Tommy durch einen neuen, sechsten Sinn offensichtlich dazu fähig war, intuitiv zu erfassen, was die Leute sagten, dazu hätte das Telefon gar nicht vor der Tür stehen müssen. (…) (S. 366)  


Da saßen sie und dachten, ohne es zu wollen, an den verstümmelten Jungen direkt unter ihnen, der nun zum Zentrum des Hauses geworden war, es beherrschte und über alles Bescheid wußte, was darin vorging: eine blinde, aber allbewußte Gegenwart. (S. 366)


Die zweite Frau seines Vaters besucht ihn regelmäßig und die beiden freunden sich an. Die Frau, die bis dahin viel trank, verändert sich stark. Sie trinkt weniger und beginnt sich für Politik zu interessieren, sie übernimmt Tommys Ansichten und beteiligt sich an Demonstrationen.
In den folgenden Kapiteln kommt Tommy kaum noch vor, am Schluss heißt es, dass er wie sein Vater Unternehmer wird und sein Vater ihn einarbeitet. Tommy ist eine Randfigur in diesem Roman, und die Stellen, in denen es um seine Blindheit geht, umfassen nur wenige Seiten. Der Schwerpunkt liegt auf seiner psychischen Veränderung, die auf die Frauen beklemmend wirkt.

 

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