Lindström, Eric: Wie ich dich sehe
NOT IF I SEE YOU FIRST
Hamburg : Carlsen, 2016
348 S.
Jugendroman
Parker Grant, eine sechzehnjährige Highschool-Schülerin, findet ihren Vater tot auf. Er starb an einer Medikamentenüberdosis. Neun Jahre lang lebte sie allein mit ihm, ihre Mutter kam bei einem Autounfall ums Leben. Die damals siebenjährige Parker erblindete.
Für mich ist alles schwarz. Ich hatte einen Autounfall, bei dem meine Sehnerven geschädigt wurden. Meine Augäpfel sind okay, aber (…) das Licht ist aus. (S. 51)
Daraufhin ziehen Verwandte bei ihr ein, und damit verändert sich Parkers Leben grundsätzlich. Während der Vater die Tochter immer ermutigte, selbstständig zu leben, kann die Tante ihr Unabhängigkeitsbedürfnis nicht wirklich verstehen, Parker darf ihr noch nicht einmal in der Küche helfen.
Parker wurde ihre gesamte Schulzeit hindurch inklusiv beschult, was für alle Beteiligten eine Selbstverständlichkeit ist. Zu Beginn eines Schuljahres wird ihr ein Buddy zugeteilt, dessen Aufgabe es ist, ihr Tafelbilder vorzulesen etc. In diesem Jahr wird Molly ihr Buddy, ein Mädchen, das neu an die Schule kommt. Parker, die grundsätzlich sehr direkt ist, erklärt ihr deutlich, dass sie keine unnötige Hilfe will. Molly kann kontern, was Parker gut gefällt. Und Parker ist sehr streng, was den Umgang mit ihr betrifft. Sie hat eine Reihe von Regeln aufgestellt, an die sich alle halten müssen. Man darf sie nicht für dumm halten, bemuttern oder ihre Blindheit ausnutzen. Aber ihre wichtigste Regel ist niemandem zu vertrauen, der sie einmal enttäuscht hat.
Aus diesem Grund will sie auch keinen Kontakt mehr zu ihrem ehemaligen Freund Scott, von dem sie sich einmal als blindes Mädchen vorgeführt fühlte. Er bemühte sich damals sehr, die Sache zu klären, aber sie weigerte sich, mit ihm zu reden. Zwei Jahre lang sind sie sich daraufhin erfolgreich aus dem Weg gegangen, jetzt wurde seine Schule geschlossen. Er besucht jetzt ihre Schule und sie treffen sich jeden Tag. Anfangs versucht sie ihn durch Ruppigkeit auf Abstand zu halten; sie hat auch ein Date mit einem anderen Jungen, aber ihre Abwehrhaltung bekommt Risse. Freunde erzählen ihr, dass die Situation damals ganz anders war, ihr kommt das erste Mal der Gedanke, dass sie vielleicht überreagiert hat. Sie will die Freundschaft wieder aufleben lassen, aber jetzt ist Scott zurückhaltend.
Nach außen lässt sie sich wie immer nichts anmerken, weshalb ihre Mitschüler sie mit Teflon vergleichen, weil scheinbar alles an ihr abprallt. Zu Hause hat sie Rituale entwickelt, die ihr helfen. So gibt sie sich jeden Tag, den sie nicht um ihren Vater weint, selbst ein goldenes Sternchen.
Dann, am Geburtstag ihres Vaters, weint sich eine Mitschülerin bei ihr aus, die seit über einem Jahr einseitig in einen Mitschüler verliebt ist. Parker kann diese einseitige Liebe nicht nachvollziehen, sie erzählt stattdessen, was sie unter Liebe versteht, und kommt dabei auf ihren Vater zu sprechen. Während Parker über ihn redet, bekommt sie einen Weinkrampf. Ihre Freunde bringen sie nach Hause. Später redet sie mit ihrer Freundin Sarah darüber, die sie dazu bringt, die Härte sich selbst gegenüber zu hinterfragen:
„Keine goldenen Sternchen mehr?“ Ich seufze. „Ich weiß nicht … Jedes Mal, wenn ich eins aufklebe, habe ich das Gefühl, dass ich stark bin.“ „Aber in Wirklichkeit verdrängst du nur. Jeder Stern war eine Prise Schwarzpulver in dem Fass, das heute hochgegangen ist.“ (S. 245)
Parker beginnt langsam den Gedanken zuzulassen, dass ihr starker Vater, der alles für sie getan hatte, möglicherweise Suizid begangen hat. Sie ist ihm trotzdem dankbar für alles, was er ihr in den Jahren davor mitgegeben hat. Gleichzeitig streicht sie auch die Regel, nach der sie anderen Menschen, die einmal einen Fehler gemacht haben, nicht verzeiht. Sie versteht selbst nicht mehr, was sie sich dabei gedacht hat.
Der Roman endet damit, dass sie sich wieder mit Scott trifft.
Parker beschreibt sehr genau, was es für sie heißt, blind zu sein, und wie sie sich die Dinge erarbeitet.
Für mich heißt lesen zuhören. Ich kann mich nicht auf ein Hörbuch konzentrieren und gleichzeitig Musik laufen lassen. Abgesehen davon brauche ich doppelt so lang, mir ein Buch anzuhören, wie du, um es zu lesen. Du erkennst auf den ersten Blick, ob du auf der richtigen Website bist – ich brauche fünf Minuten, bis ich herausgefunden habe, dass ich auf der falschen bin und den Link entdeckt hab, auf den ich klicken muss, um zur richtigen zu kommen. Das heißt, ich habe zwei Möglichkeiten: entweder verbringe ich den größten Teil meiner Zeit damit, mir Informationen vorlesen zu lassen und sie auswendig zu lernen, um eine Chance zu haben, in der Schule mitzukommen – oder ich höre Musik, okay? (S. 89 f.)
Eine von Parkers Eigenheiten ist, dass sie immer Augenbinden trägt, sie besitzt mehrere Tücher, die sie markiert hat und die sie je nach Situation und Befindlichkeit auswählt. Als sie sich mit Scott ausspricht, zeigt sie ihm als Vertrauensbeweis ihre Augen. Kein Mitschüler außer ihm darf sie sehen. Ihre Augen sind nach wie vor sehr schön, aber sie empfindet sie als nutzlos.
Dann öffne ich die Augen. Meine toten, leeren, nutzlosen Augen. (S. 337)