Malcolm, Elisabeth: Alle Bilder, die ich sehe
Freiburg : Herder, 1976
Ersterscheinung unter dem Titel „Der bedrohte Mond“, 1968
165 S.
Kinderroman
Die zwölfjährige Brigitte ist verträumt und schüchtern. In der Schule kann sie sich oft nicht konzentrieren und unter Gleichaltrigen hat sie keine Freunde. Wenn es zu Hause Streit gibt, und das ist oft der Fall, zieht sie sich kleinlaut zurück. Ihre Mutter, die oft unzufrieden ist, klagt über ihre Tochter und droht immer wieder, sie in ein Heim zu geben. Nur zu ihrem Opa und der fünf Jahre älteren Schwester Ursula hat sie ein gutes Verhältnis.
Eines Tages sitzt ein junger Mann mit einer dunklen verspiegelten Brille vor ihrem Haus auf der Bank. Er wird von einer Nachbarin gebracht und Stunden später wieder weggeführt. Außerdem reagiert er nicht, als ein Ball auf ihn zufliegt. Brigitte schließt daraus, dass er blind sein muss. Abends erzählt sie ihrer Familie davon. Der Kommentar der Mutter: „Weiß jemand etwas Lustiges zu berichten?“ (S. 22)
Brigitte denkt in den folgenden Tagen pausenlos darüber nach, wie es wohl ist, blind zu sein. In der Schule bekommt sie deswegen nichts mehr mit und zu Hause gibt es Ärger, weil sei bei dem Versuch, mit geschlossenen Augen zu essen, kleckert.
Als sie mit geschlossenen Augen zum Spielplatz geht, rempelt sie den blinden Mann an, was ihr peinlich ist. Etwas später kommt sie mit ihm ins Gespräch und erfährt, dass er Jürgen heißt und vor vier Jahren mit seinen Freunden eine Granate gefunden und berührt hat. Durch die Explosion ist er erblindet. Nun ist er in Brigittes Stadt gekommen, um sich in einer Augenklinik untersuchen zu lassen. Er hofft, dass der Professor ihn operieren und heilen kann. Während er auf einen Termin wartet, wohnt er bei seiner Tante.
Brigitte fühlt sich für sein Schicksal verantwortlich. Zum einen betet sie für ihn. Sie verspricht Gott, ein besserer Mensch zu werden und einen Sommer lang auf Eis zu verzichten, wenn er nur geheilt wird.
Dabei ist sie ängstlich bemüht, alle Versprechungen einzuhalten, damit seine Heilung nicht gefährdet ist. Gleichzeitig will sie ihm das Leben so angenehm wie möglich machen, solange er blind ist. Sie geht mit ihm spazieren und beschreibt ihm alles, was sie sieht –manchmal fügt sie auch etwas hinzu. Wenn ihr ein Fluss nicht interessant genug erscheint, erfindet sie ein paar Boote, die darauf fahren.
Sie entdeckte plötzlich, welche Macht sie hatte, sie konnte die Welt verändern, anders gestalten, konnte hinzufügen und auslöschen, und er glaubte es ihr. Wäre er lange mit ihr zusammen, würde er alles empfinden wie sie. (S. 86)
Ihre Eltern betrachten die Freundschaft eher skeptisch, aber groß sind ihre Bedenken nicht.
Brigitte überdachte die paar Tage, die sie miteinander gehabt hatten. Merkwürdig frei war sie für ihr Alter gewesen. Einzig durch den Umstand, dass er blind war. (…) Hätte er gesehen, hätte man ihm den Umgang mit ihr verboten und vielmehr noch ihr den Umgang mit ihm. Nur seiner Blindheit war es zu verdanken, daß sie zusammengekommen und Freunde geworden waren. (S. 144)
Aber die Eltern warnen, sie solle keine Dankbarkeit erwarten. Brigitte fühlt sich unverstanden, sie meint, keinen Dank zu wollen, und wartet doch genau darauf, dass sie endlich die Anerkennung und Freundschaft bekommt, die ihr bisher verwehrt wurde.
Und er würde sie seinen Eltern und allen Bekannten vorstellen und würde sagen: „Das ist Brigitte, der ich so viel zu verdanken habe.“ (S. 108)
Am Ende kommt es so, wie es ihr Vater vorhergesagt hat. Als Jürgen wieder sieht, erkennt er, dass Brigitte viel zu jung für ihn ist, und interessiert sich für ihre ältere Schwester. Diese will keinen Kontakt, sie hat Mitleid mit der desillusionierten Schwester.
Brigitte gewinnt an Stärke, solange Jürgen blind und offenbar von ihrer Hilfe abhängig ist. Doch mit der Heilung, mit Jürgens neuer Selbstständigkeit, bricht Brigittes neue Welt zusammen.
Der Verlag vermarktet das Buch als Reifungsgeschichte.
An Jürgens Seite, dem sie alles beschreibt, lernt sie die Welt deutlicher zu sehen und löst sich immer mehr von ihrer Kindheit. (Klappentext)