Mechtel, Angelika: Die Blindgängerin
Frankfurt : Ullstein, 1989
Deutsche Ersterscheinung 1974
398 S.
Roman
Der Roman handelt von zwei Frauen: Elsa, die ein bewegtes Leben hinter sich hat, und Anne, ihre junge Freundin.
Der erste Teil beginnt damit, dass Anne im Krankenhaus auf eine Operation wartet. Das Krankenhaus wird durch Geräusche beschrieben. Nach und nach erfahren die Leser und Leserinnen, dass Anne vor einem Jahr durch einen Unfall erblindet ist und nach Elsas Tod ihre Hornhäute übernehmen soll. Zwischen den Abschnitten, die das Warten auf Heilung beschreiben, wird in Rückblenden aus Annes und Elsas Leben erzählt. Anne flüchtete früh aus ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus, lebte in Wohngemeinschaften und arbeitete in Kinderläden. Dann wurde sie schwanger, zu einer geplanten Abtreibung kam es nicht. Während der Schwangerschaft hatte sie den Unfall, der ihre Hornhäute zerstörte.
Elsa war etwa 40 Jahre älter als Anne. Sie heiratete spät. Während ihrer Ehe war sie eine unauffällige Hausfrau. Ihr Mann kam bei einem Unfall ums Leben.
Weil Elsa nach dem Tod ihres Mannes nicht die erwartete Trauer zeigte, wurden die Nachbarn misstrauisch; einer fing an, ihr nachzuspionieren. Elsa kümmerte sich in der Folgezeit immer weniger um gesellschaftliche Konventionen, ließ den Garten verwildern und verreiste im Sommer monatelang. Auch das schürte Neid und Missgunst bei den Nachbarn. Dann lernte Elsa Anne kennen, die zu diesem Zeitpunkt blind und schwanger war. Sie beschloss, sich um Anne und das Kind kümmern. Zwischen den Frauen entstand eine enge Freundschaft, auch wenn Anne keineswegs immer nach Elsas Idealen leben wollte. Nach Elsas Tod erbte Anne alles: das Haus, die wenigen Ersparnisse und auch die Hornhäute. Am Ende des ersten Teils wird Anne geheilt entlassen und zieht mit ihrem Kind in das Haus ein.
Der zweite Teil beginnt ein Jahr später. Auch diesmal wird Anne ins Krankenhaus eingeliefert: Sie hat eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Ärzte und Schwestern können das nicht verstehen, die Augenoperation war ein voller Erfolg, es ging ihr gut. Dieser Teil ist wie der erste aufgebaut; Szenen, in denen Anne zu Bewusstsein kommt, wechseln ab mit Szenen, in denen Annes Entwicklung während des letzten Jahres geschildert wird. Anne wollte ein eigenständiges Leben führen.
Sie lernt einen Mann kennen, in den sie sich verliebt, doch die Beziehung gleicht im Laufe der Zeit immer mehr der Ehe und dem Familienleben, das sie nicht wollte. Dies führte zum Suizidversuch. Am Ende des Buches verlässt sie mit ihrem Kind die Stadt.
Dem Klappentext ist zu entnehmen, dass die Autorin Angelika Mechtel eine blinde, schwangere Frau kennengelernt hat. Die reale Blindheit ist aber nur eine Durchgangsstation. Eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, als blinde Frau zu leben und sich zu entwickeln, findet nicht statt. Anne lernt zwar unter Elsas Anleitung, relativ selbstständig das Kind und den Haushalt zu versorgen, aber an eine berufliche Weiterbildung wird weder vor noch nach der Geburt des Kindes gedacht. Sie hat auch kein eigenes Geld und lebt mit von Elsas Pension. Erst nach ihrer Heilung bemüht sie sich um einen beruflichen Neuanfang.
Das eigentliche Thema ist die symbolische Blindheit, aus der sich die Frauen befreien müssen. So heißt es in dem Roman immer wieder, dass auch Elsa blind ist. Dazu das Nachwort von Horst Ferle:
Auch Elsa war „blind“ ihr Leben lang, nicht im körperlichen Sinne, sondern ohne Wach-sein für das, was sie eigentlich wollte. Erst der eigenartige Zufall – ihr Mann wird durch einen „Blindgänger“ zerrissen, eine Granate, die Elsa ihm zuwirft, ohne die Gefahr zu ahnen – macht Elsa zu einer Frau, die frei und selbstbewusst den weiteren Lebensweg gehen kann. (S. 383–384)
Beiden gelingt es, in verschiedenen Lebensaltern aus der „Blindheit“, sprich Unselbstständigkeit, herauszutreten. (S. 385)
Ferle vergleicht die Blindheit mit dem „Nicht-Wissen, wie das Leben weitergehen wird.“ (S. 392)
Am Ende von Teil 1 erreicht sie eine „Schein“-Freiheit, sehend als Vorausbedingung für den weiteren Prozeß der Selbstfindung. (S. 396)