Morsbach, Petra: Der Cembalospieler
München, Zürich : Piper, 2008
281 S.
Roman
Moritz Bauer, Cembalospieler, verbringt einige Zeit in Venedig und bereitet sich auf ein Konzert bei einem Mäzen vor. Im Rückblick erzählt er seine Lebensgeschichte.
Mit fünf Jahren sieht und hört Moritz das erste Mal ein Klavier. Er will auch eines haben, aber die Mutter lehnt immer wieder ab. Die Familienverhältnisse sind schwierig, der Vater hat ein Alkoholproblem und die Mutter ist neurotisch, launisch, lieblos. Als er auf das Gymnasium kommt, darf er immerhin Cello lernen, mit mäßigem Erfolg, das Instrument sagt ihm nicht zu.
Mittlerweile stellen sich bei ihm zunehmende Sehprobleme ein, nach mehreren Augenarztbesuchen wird eine Diagnose gestellt.
Die Diagnose lautete juvenile Makula-Degeneration. Ein Genfehler: Meine Netzhaut würde von innen nach außen hin absterben, und mit dreißig war möglicherweise Schluss. Noch hatte ich eine Sehkraft von 60 Prozent, was besser klingt, als es war, denn ich konnte keinen Punkt mehr fixieren, ich sah nur mit den Rändern der Netzhaut. Wenn ich einen Gegenstand erkennen wollte, musste ich an ihm vorbeischauen, damit er am Netzhautrand hängen blieb. (S. 15)
Moritz erschreckt diese Diagnose gar nicht, im Gegenteil. Er erfährt dadurch viel Verständnis.
Ich begriff, dass ich ab sofort etwas Besonderes war und dass für mich andere Gesetze galten. Sogar die Migräneattacken hatten plötzlich eine höhere Berechtigung, und das Mitleid aller war mir gewiss. Mitschüler und Lehrer sahen mich scheu und neugierig an. Ich merkte: je unbekümmerter ich auftrat, desto ergriffener waren sie. Eine Lehrerin, die ich zu trösten versuchte, brach vor meinen Augen in Tränen aus. Ich gebe zu, dass ich diese Reaktionen genoss wie Nektar. (S. 15)
Und es gibt einen weiteren, wichtigen Vorteil. Er darf endlich Klavier spielen. Der Berater der „Blindengesellschaft e. V.“ rät ihm dazu. Mit einem Tasteninstrument hätte er gerade als blinder Musiker mehr Möglichkeiten.
Eine zerstreute Klavierlehrerin an seiner Schule gibt ihm Noten, ein Stück von Bach. Eine Stunde steht ihm jeden Tag das Schulklavier zur Verfügung. Er übt begeistert, und auch die Zeit dazwischen beschäftigt er sich gedanklich mit dem Stück. Eine Woche später soll er das Stück vorspielen.
„Wie?“, fragte sie, „du spielst wirklich erst drei Jahre?“
„Eins …“
Sie war spürbar beeindruckt. „Ach ja, eins“, murmelte sie, „und wer war dein Klavierlehrer?“
„Nicht Klavier. Cello. Cello hab ich ein Jahr gespielt. Klavier spiel ich erst seit einer Woche.“
„Moment“, hauchte sie hinter mir in einem Ton, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Sie sprang auf und rannte hinaus, und ich bleib meinerseits beeindruckt zurück. Ich saß und wartete, und weil mir die Zeit lang wurde, improvisierte ich auf dem Klavier. Dann kam sie mit dem Direktor und bat mich, nochmals zu spielen. Die beiden wisperten erregt, und dann hörte ich sie sagen: „Ein Wunderkind!“ (S. 17)
Später entdeckt er das Cembalo, er wird erfolgreicher Musiker, gibt große Konzerte, hat viele Mäzene.
In weiten Teilen des Romans geht es um das Auf und Ab im Leben dieses Ausnahmekünstlers, um den Musikbetrieb, um Bach, um Kompositionen und um sein schwules Liebesleben. Seine Sehbehinderung taucht immer wieder als Randthema auf.
Er wohnt in einem Haus der „Blindengesellschaft e. V.“, in fremder Umgebung braucht er Begleitung, wird gegen Ende diskriminiert. So bewirbt er sich als Dozent an einer Musikhochschule, aber man traut ihm weder Unterricht noch Prüfungen zu. Seine Argumente zählen nicht.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Gar nicht so sehr, weil meine Lebensplanung über den Haufen geworfen worden war, denn einem besseren Mitbewerber hätte ich mich ohne Zorn gebeugt. Fatal war die Begründung. Jahrelang war ich davon ausgegangen, dass ich es mit Spitzeneinsatz und Spitzenleistung schon schaffen würde, und nun stellte sich heraus, als Blinder hatte ich keine Chance, egal, was ich tat. (S. 203)
Diese Kritik, die die Situation vieler blinder und sehbehinderter Menschen zutreffend beschreibt, erscheint in diesem Roman etwas überraschend. Bis dahin wird Moritz eher als Ausnahmetalent geschildert, der aufgrund seiner herausragenden Begabung alle überzeugt.