Schnitzler, Arthur: Der blinde Geronimo und sein Bruder
in: Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl und andere Erzählungen
Frankfurt am Main: Fischer, 1981
Ersterscheinung 1900
S. 237–259
Erzählung
Als Jugendlicher hat Carlo versucht, mit einem Blasrohr auf einen Baum zu zielen. Sein kleiner Bruder Geronimo, der währenddessen durch den Garten gerannt ist, wurde durch einen unglücklichen Zufall getroffen und erblindete. Seitdem leidet Carlo unter schweren Schuldgefühlen.
Nun litt Carlo noch mehr als früher, so sehr er sich auch damit zu beruhigen suchte, daß er ohne jede Absicht das Unglück herbeigeführt hatte. Und manchmal, wenn er am frühen Morgen den Bruder betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er von einer solchen Angst erfasst, ihn erwachen zu sehen, daß er in den Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu müssen, wie die toten Augen jeden Tag von neuem das Licht zu suchen schienen, das ihnen für immer erloschen war.“ (S. 239 f.)
Carlo brach eine Lehre ab, um ganz für seinen Bruder da zu sein, der seinen Unterhalt als Straßenmusiker verdient.
Nun sind sie seit zwanzig Jahren unterwegs. Eines Tages gibt ihm ein Fremder einen Franken und behauptet, es seien zwanzig Franken. Er fordert Geronimo auf, sich nicht von seinem Bruder betrügen zu lassen. Natürlich ist kein 20-Frankenstück im Hut, aber Geronimo glaubt es und ist sich sicher, dass Carlo ihn betrügt. Carlo tut alles, um seinen Bruder von dieser Idee abzubringen, ohne Erfolg. Geronimo misstraut seinem Bruder nun grundsätzlich und Carlo überlegt, seinen Bruder zu verlassen und irgendwo als Knecht zu arbeiten. Aber er merkt, dass er nicht auf seinen Bruder verzichten kann, und auch nicht auf die Hoffnung, dass Geronimo ihm irgendwann verzeiht.
Carlo kommt auf die Idee, zwanzig Franken zu stehlen und Geronimo zu sagen, er habe sie nur sicher verwahren wollen. Es gelingt ihm, das Geld zu stehlen, aber es gelingt ihm nicht, Geronimo umzustimmen. Bald darauf fliegt der Diebstahl auf und sie werden verhaftet. Während der Gendarm sie abführt, bleibt Geronimo plötzlich stehen und küsst seinen Bruder. Carlo schöpft die Hoffnung, dass sein Bruder ihm endlich verziehen hat.
Und Carlo, mit festem Druck den Arm des Blinden leitend, ging wieder vorwärts. Er schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher. Denn er sah Geronimo lächeln in einer milden glückseligen Art, wie er es seit Kinderjahren nicht mehr an ihm gesehen hatte. Und Carlo lächelte auch. Ihm war, als könnte ihm nichts Schlimmes mehr geschehen – weder vor Gericht noch sonst irgendwo auf der Welt. – Er hatte seinen Bruder wieder … Nein, er hatte ihn zum ersten Mal. (S. 259)
Damit endet die Geschichte.