Bielen, Valerie: Nur mit deinen Augen
Berlin : Aufbau Taschenbuch Verlag 2014
381 S.
Roman
Die vierundzwanzigjährige, leicht verhuscht wirkende Buchhändlerin Alice beschließt spontan, eine Au-Pair-Stelle in Venedig anzunehmen. Sie sucht keine Liebesaffäre, sondern will die Stadt kennenlernen, von der ihre alleinerziehende Mutter geträumt hat. Zunächst einmal ist alles enttäuschend. Sie kommt im kalten, grauen Winter an, und ihre Arbeitgeber sind reiche Egoisten, die sie rücksichtslos ausbeuten. Alice, die ihr Leben lang immer in sehr bescheidenen Verhältnissen gelebt hat, nimmt dies mit stoischer Gelassenheit hin.
Nach einigen Tagen sieht sie auf einem Nachbarbalkon einen Mann, der sehr attraktiv ist und zunächst auch sehr selbstbewusst wirkt. Dann aber erblickt sie noch etwas an ihm: Schmerz und Trauer. Ihr Interesse ist geweckt, sie versucht ihn so oft wie möglich zu sehen. Sein Verhalten macht sie neugierig.
Ich sah wieder auf, und zu meinem Erstaunen hatte er seinen Blick wieder den Sternen zugewandt und schien in sich versunken zu sein. Er musste mich gesehen haben. Warum hatte er zuvor nichts gesagt? War er zu höflich? (S. 41)
Von ihrer Arbeitgeberin erfährt Alice, dass der rätselhafte Mann Tobia Manin heißt, ein blinder und steinreicher Amerikaner ist, der wie ein Eremit lebt. Außerdem rät ihr die Arbeitgeberin, ihn sich gleich aus dem Kopf zu schlagen. Alice beschäftigt sich gedanklich umso mehr mit ihm.
Da sie oft nicht schlafen kann, beginnt sie, nachts in Venedig spazieren zu gehen. Dabei trifft sie Tobia Manin wieder. Sie spricht ihn nie an, aber sie denkt ständig an ihn. Sie fühlt eine „komplizenhafte Vertrautheit“. (S. 55)
Bei der dritten Begegnung spricht er sie an und fragt sie, ob sie sich nicht neulich schon getroffen hätten. Sie ist erstaunt, dass er sie erkennt, er erklärt, dass er sie am Duft bemerkt hat. Das verwirrt sie noch mehr, weil sie kein Parfum benutzt. Auch sonst ist er rätselhaft, er will Kontakt, um dann gleichzeitig das Gespräch abzubrechen und zu gehen. Sie hält ihn für arrogant und eitel, doch schon bei der nächsten Begegnung hat er wieder ihr ganzes Mitgefühl.
Und für einen kurzen Augenblick erschien vor mir nicht Tobia Manin, sondern ein gefangenes Tier, ruhelos und nervös auf der Loggia wartend. Ein Panther, der im Käfig saß und sehnsüchtig in die Freiheit blickte, aber dessen Hoffnungen gestorben waren. Mein Herz zog sich zusammen. Unendlich traurig sah ich ihn an und war von meinem Gefühl so überwältigt, dass ich nicht bemerkte, wie mir, wie so oft in der feuchten Luft Venedigs, ein Niesen entwich. (S. 62 f.)
Er fühlt sich von ihr beobachtet und reagiert verärgert. Trotzdem kommen sie ins Gespräch, wobei sie von sich erzählt und er abbricht, als sie ihm eine Frage stellt. Einige Tage später gibt Tobia Manin eine Gesellschaft, erstaunlicherweise ist Alice auch eingeladen und weil sie als Au Pair nicht viel verdient, schickt er sie zu einem Laden, wo sie auf seine Kosten angemessen eingekleidet, geschminkt und frisiert wird. Auf der Party spricht sie auch mit dem Gastgeber, doch seine Mischung aus Interesse und Schroffheit verwirren sie aufs Neue. Am Ende der Feier verabreden sie sich jedoch für den nächsten Tag.
Zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft, sie erfährt, dass er aus Italien stammt, aber in den USA aufgewachsen ist, dass er mit einer Internetfirma viel Geld verdiente und bei einem Überfall angeschossen wurde. Er überlebte wie durch ein Wunder, aber sein Sehnerv ist seitdem zerstört. Sein Bruder, den Alice mittlerweile auch kennt und absolut unsympathisch findet, hat den Einbrecher erschossen.
Diese beginnende Freundschaft zwischen Alice und Tobia verläuft keinesfalls unkompliziert, und ihre Mitmenschen, besonders sein Bruder Stefano, setzten alles daran, einen Keil zwischen beide zu treiben.
So ist die Freundschaft ein einziges Auf und Ab. Alice schöpft bald den Verdacht, dass Tobias Bruder Stefano hinter dem Anschlag auf Tobia steckt, aber das kann sie ihrem Freund nicht sagen, weil der nichts auf seinen Bruder kommen lässt.
Dann lädt Stefano sie zu einer Bootsfahrt ein. Alice bekommt sofort ein schlechtes Gefühl, weiß aber nicht, wie sie es begründen kann, ohne von ihrem Verdacht zu erzählen. Zuerst wird es eine schöne Tour, dann fährt Stefano mit ihnen immer weiter aus der Lagune, und nun wird deutlich, dass er sie beide umbringen will. Da er sich sicher ist, dass sie beide die Fahrt nicht überleben werden, legt er gleich ein komplettes Geständnis ab, in dem er alles bestätigt, was Alice die ganze Zeit vermutet hat. Er litt darunter, im Schatten seines tüchtigeren Bruders zu stehen, und wollte Tobias Vermögen erben. Stefano schubst Alice vom Boot und will sie überfahren. Währenddessen findet Tobia auf dem Schiff eine Flasche Bleichmittel und schüttet sie seinem Bruder in die Augen. Während des Kampfs fällt Stefano in ein Messer, mit dem Tobia sich bewaffnet hatte. Stefano stirbt, Alice und Tobia müssen nur noch nachweisen, dass sie aus Notwehr gehandelt haben. Danach fliegen sie nach Südafrika, denn Alice hat erfahren, dass dort ihr unbekannter Vater lebt. Er hat es in der Zwischenzeit zu Geld gebracht, bedauert, dass er sich nie um sein einziges Kind gekümmert hat und setzt sie als Erbin ein. So kann Alice am Ende eigenes Geld in die neue Beziehung mit einbringen.
Alice und Tobia machen beide eine Wandlung durch. Die zunächst brave und angepasste Alice verliebt sich das erste Mal in ihrem Leben und setzt sich das erste Mal für ihre Interessen ein.
Die größere Wandlung macht aber Tobia durch. Er selbst glaubt, dass seine Blindheit eine Strafe für sein früheres Leben ist, aber Alice widerspricht ihm.
„Könnte es nicht eher sein, dass dir diese Aufgabe gestellt wurde, um dir in gewisser Weise die Augen zu öffnen?“ S. 186
„Ist es nicht paradox, dass ich anscheinend erst blind werden musste, um wahrlich sehen zu können?“ (S. 344)
So wird aus dem hartherzigen Milliardär ein besonders einfühlsamer Mensch, der in Alice das sehen kann, was den meisten Menschen verborgen bleibt. Dies wird damit begründet, dass er blind ist und mit dem Herzen sehen kann.