Sendker, Jan Philipp: Das Herzenhören

München : Wilhelm Goldmann, 2002
286 S.
Roman

Julia Win ist eine junge New Yorker Anwältin, deren Vater Win Tin, ein erfolgreicher Medienanwalt, eines Tages untertaucht. Vier Jahre nach seinem Verschwinden reist Julia nach Birma, in die Heimat des Vaters. Dort wird sie im Teehaus von einem Mann angesprochen, der sie erkennt und ihr nach und nach die Lebensgeschichte ihres Vaters erzählt.
Als Win Tin geboren wird, glaubt seine Mutter, dass ein Fluch auf dem Baby liegt, und sie macht das Kind für alle Probleme und Missgeschicke verantwortlich. Als zudem der Vater des Jungen stirbt, verläßt die Mutter den Ort und ihren Sohn. Eine Nachbarin kümmert sich um Win Tin. Im Laufe der Zeit fällt seiner Pflegemutter auf, dass der Junge schlecht sieht. Drei Tage nach seinem zehnten Geburtstag wacht Win Tin auf und ist blind.
Der Arzt kann sich eine Erblindung ohne Unfall nicht erklären, schon gar nicht bei einem so jungen Menschen, aber er meint, dass die Blindheit genauso spontan verschwinden könne, wie sie aufgetreten ist.
Win Tin hat große Schwierigkeiten, sich umzustellen. Er stolpert und läuft vor Hindernisse, empfindet die Nähe der anderen Kinder als bedrohlich und fühlt sich selbst „gefesselt“. (S. 86)
Die Pflegemutter bringt Win Tin zu einem buddhistischen Mönch, der selbst blind ist und im Kloster Kinder unterrichtet. Dort lernt Win Tin, sich zu orientieren und auf seine anderen Sinnesorgane zu konzentrieren. Das dauert eine Zeit lang, aber der Mönch beruhigt ihn, dass dies normal sei. Außerdem habe das Blindsein auch Vorteile.

„Unsere Sinnesorgane lieben es, uns in die Irre zu führen, und die Augen sind dabei am trügerischsten. Sie verleiten uns, ihnen zu sehr zu trauen.“ (S. 120)

Win Tin ist ein begabter Schüler, er entwickelt sich gut und lernt Punktschriftbücher lesen, die ein britischer Offizier, dessen Sohn blind ist, dem Kloster vererbt hat. Dabei lebt Win Tin in einer eigenen Welt, die Kontakte zu den anderen Schülern sind freundlich, aber distanziert. Freundschaften zu anderen Schülern schließt er nicht. Vier Jahre nach seinem Eintritt ins Kloster beginnt eine Veränderung. Sein Gehör wird extrem gut, er kann die leisesten Geräusche hören, sogar den Herzschlag der Menschen.
Das erste Mal bemerkt er diese neue Fähigkeit, als er das Mädchen Mi Mi kennenlernt. Es ist der Anfang einer neuen Weltsicht und gleichzeitig der Anfang einer besonderen Freundschaft. Mi Mi wurde mit verformten Füßen geboren und kann nicht laufen. Die beiden werden unzertrennlich und aus der Freundschaft entwickelt sich Liebe.
Eines Tages meldet sich ein reicher Onkel bei Win Tin. Er ist Geschäftsmann, und ein Astrologe hat ihm geraten, einem armen Verwandten etwas Gutes zu tun, um damit das Schicksal gnädig zu stimmen. Der Onkel schickt Win Tin zum Augenarzt, der grauen Star feststellt, und anschließend bezahlt der Onkel die Operation. Win Tin kann wieder sehen, aber damit wird er nicht entlassen. Der Onkel will Win Tin auch weiterhin zum Gegenstand seiner Wohltaten machen und finanziert ihm ein Studium. Win Tin kann sich nicht dagegen wehren, die Tradition seiner Gesellschaft macht es unmöglich. Aber er liebt noch Mi Mi und schreibt ihr täglich Briefe, die der Onkel von Dienstboten abfangen lässt.
Später zieht Win Tin nach New York, um sich zumindest teilweise dem Einfluss seines Onkels zu entziehen. Dort gründet er eine Familie, die er Jahrzehnte später wieder verlässt, um seine Jugendliebe Mi Mi zu suchen. Er kann ihre Adresse ermitteln, doch bevor er sie in ihrem Haus aufsucht, geht er ins Teehaus und erzählt den Gästen seine Geschichte. Dann geht er in Mi Mis Haus. Sie ist mittlerweile todkrank, er legt sich zu ihr und glücklich vereint sterben beide.
Der fremde Mann, der Julia Win die ganze Geschichte erzählt, ist Mi Mis und Win Tins Sohn, gezeugt kurz vor Win Tins Abreise, und somit Julia Wins Halbbruder.

 

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