Shattuck, Shari: Tage wie Salz und Zucker

INVISIBLE ELLEN
Reinbek : Rowohlt, 2014
365 S.
Roman


Ellen, Mitte 20, hatte eine schwere Kindheit mit zahlreichen Pflegestellen, in keiner ging es ihr wirklich gut. Sie ist stark übergewichtig und eine Gesichtshälfte ist durch eine Narbe gekennzeichnet. Das ist ihr so unangenehm, dass sie immer ihre langen Haare ins Gesicht fallen lässt, um ihr Gesicht weitgehend zu verbergen. Aber eigentlich ist dies nicht notwendig, denn Ellen scheint unsichtbar zu sein. Die meisten Leute, die sie sehen, wenden schnell ihren Blick ab oder sehen gleich durch sie hindurch. Ellen ist das sehr recht, ihr sind menschliche Kontakte unangenehm. Stattdessen beobachtet sie Menschen und hält ihre Beobachtungen in Tagebüchern fest. Den meisten Leuten, deren Leben sie so verfolgt, geht es nicht viel besser als ihr. Niemand scheint glücklich oder erfolgreich zu sein. Es sind Kollegen aus der Putzkolonne, in der sie arbeitet, und die Nachbarn aus dem sozialen Brennpunkt, in dem sie lebt. Mit keinem von ihnen redet sie je. Eines Tages sitzt Ellen im Bus, als sie eine Frauenstimme hört, die fragt, welche Linie der Bus fährt. Sie wundert sich, denn das steht groß am Bus. Die Frau, die trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille trägt, geht durch den anfahrenden Bus, um sich einen Platz zu suchen. Dummen Kommentaren der anderen Fahrgäste begegnet sie mit Humor. Dann setzt sie sich neben Ellen und ihre beiden Körper berühren sich. Die Frau, die offensichtlich blind ist, spricht Ellen an und bittet sie, ihr eine bestimmte Station anzusagen. Ellen ist vollkommen fasziniert von der Unbekümmertheit der Frau. Schüchtern nennt sie ihr die gewünschte Station.
Ellen entschließt sich spontan, mehr über diese ungewöhnliche Frau zu erfahren. Deshalb steigt sie auch aus dem Bus und folgt ihr heimlich. Dabei wird sie Zeugin, wie zwei Männer der unbekannten blinden Frau die Handtasche entreißen. Nach einer Schrecksekunde stellt Ellen einem der beiden Diebe ein Bein, der stürzt. Ellen kann der blinden Frau ihre Tasche zurückgeben. Die blinde Frau – ihr Name ist Temerity – lädt sie zum Essen ein. Ellen ist verwirrt, traut sich nicht in ein Restaurant zu gehen und lehnt ab.


Ellen wandte sich ab und floh vor der ersten Person in beinahe sechs Jahren, die ihr irgendetwas angeboten hatte. Und die sie – war das nicht paradox? – sah, weil sie nicht sehen konnte. (S. 24)


Dann überwindet Ellen sich und besucht Temerity, die mit ihrem Bruder Justice in einer großzügigen und elegant eingerichteten Loft-Wohnung lebt. Ellen ist verunsichert und eingeschüchtert, würde am liebsten fliehen, aber Temerity lockt sie aus der Reserve, und so spricht Ellen das erste Mal darüber, dass sie für andere Menschen unsichtbar zu sein scheint. Zur großen Überraschung lacht Temerity sie nicht aus, sondern findet es „fabelhaft“ und „cool“ und beginnt eine Unterhaltung über das Unsichtbarsein. Auch Justice akzeptiert Ellen so, wie sie ist. Zwischen den dreien entwickelt sich eine Freundschaft, die ungleich wirkt, denn sowohl Temerity, die Pianistin in einem Orchester ist, als auch ihr Bruder Justice, ein Anthropologe, sind gebildet, schlagfertig, charmant und selbstbewusst. Aber sie halten Ellen, die ungebildet, gehemmt und linkisch ist, für einen wunderbaren Menschen. Ihr gemeinsames Interesse ist, sich um andere Menschen zu kümmern. Es sind Leute aus Ellens Umfeld, die sie bisher nur heimlich beobachtet und in ihren Tagebüchern beschrieben hat: eine Hochschwangere, deren Partner verstorben ist und die sich nun genötigt sieht, das Kind zur Adoption freizugeben, außerdem ein Kleinkrimineller, der gerne ein neues Leben anfangen möchte, und eine russische Kollegin, die von verschiedenen Männern bedrängt wird. Dabei spielen die drei immer wieder Detektiv, greifen in das Leben ihrer „Schützlinge“ ein, spielen Schicksal, manipulieren polizeiliche Ermittlungen. Natürlich immer nur in bester Absicht. Ellen kann ihre neue Freundin nur bewundern. Sie ist mutig, kreativ, witzig, verhandelt selbstbewusst mit den Leuten. Die Menschen mögen sie und sie scheint immer die Kontrolle über jede Situation zu haben. Nach und nach wird sichtbar, dass auch Temerity Probleme hat. Auch sie wurde als Kind gemobbt, auch sie ist einsam.


„Ich hab ziemlich viele Bekannte, aber die Wahrheit ist, dass die meisten sehenden Leute sich nicht wohl dabei fühlen, mit einer Blinden befreundet zu sein. Was nicht ihre Schuld ist. Ich meine, ich habe ein paar Freundinnen, vor allem andere Musikerinnen, mit denen ich über Musik reden kann und auch über andere Sachen, wenn wir uns die Zeit nehmen, aber ich weiß, dass sie sich nicht wohl dabei fühlen, mich irgendwo draußen zu treffen, zum Beispiel zum Mittagessen, und schon gar nicht dabei, mit mir ins Kino zu gehen oder in ein Museum. Wozu auch?“ (S. 235)


Sie bemüht sich, die positiven Seiten zu sehen, denn das, so sagt sie, habe ihr geholfen, eine gute Geigerin zu werden.
Temerity bringt es dann auf den Punkt, als eine Frau sie fragt, warum sie und Ellen sich so sehr für die Belange anderer engagieren.


„(…) außerdem finde ich immer, dass meine eigenen Probleme sehr viel unbedeutender wirken, wenn ich mich darauf konzentriere, anderen Menschen zu helfen.“ (S. 304)


Der Versuch, die eigenen Probleme in den Griff zu bekommen, indem man sich auf andere konzentriert, funktioniert bei Ellen tatsächlich. Sie gewinnt nach und nach an Selbstbewusstsein. Nach der kinoreifen Überführung eines Mörders ist sie selber so verletzt im Gesicht, dass sie operiert werden muss. Die Ärzte sind so beeindruckt von ihrem Einsatz, dass sie nicht nur das Notwendigste nähen, sondern ihr zudem eine Schönheits-OP spendieren und sie von dem entstellenden Narbengewebe befreien. Die daraufhin nötige flüssige Ernährung und eine anschließende Diät, überwacht von Ellen und Justice, sorgen dafür, dass sie in wenigen Monaten siebzig Kilogramm verliert. Am Ende erweitert sich Ellens neuer Freundeskreis um zwei weitere schüchterne bzw. drangsalierte Menschen und Ellen ist glücklich.

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