Sullivan, Tom; Gill, Derek: Wenn ihr sehen könntet, was ich höre

IF YOU COULD SEE WHAT I HEAR, 1975
Reinbek : Rowohlt, 1979
148 S.
Autobiografie

Tom Sullivan, geboren 1947, erzählt seine Lebensgeschichte. Er kommt drei Monate zu früh zur Welt, erhält im Brutkasten zu viel Sauerstoff und erblindet.
In den ersten Jahren wird er von seiner Mutter sehr behütet und wächst fast völlig isoliert auf. Das einzige Kind, zu dem er regelmäßig Kontakt hat, ist seine sechs Jahre ältere Schwester. Später setzt sich sein Vater durch, der aus seinem einzigen Sohn einen harten Jungen machen will, und Tom kann seine ersten Freunde kennenlernen. Die Schulzeit verbringt er im Perkins-Institut, wo er in sportlich und musikalisch gefördert wird. Hier wird auch sein „Fernsinn“ entdeckt.

(...) und wir unterhielten uns über den „Fernsinn“, die kostbare Gabe, die einige, wenige Blinde besitzen. Ich habe davon schon gesprochen und sie mit dem natürlichen Radar der Fledermäuse und Schildkröten verglichen. Unter den fünfzehnhundert völlig blinden Schülern in Perkins besaßen, soviel ich weiß, nur noch zwei andere diesen seltenen Sinn. Mit seiner Hilfe konnte ich mich schneller bewegen, war unternehmungslustiger und aggressiver als meine Freunde. Der Fernsinn ist jedoch nicht narrensicher. Stände zum Beispiel ein schlanker Gegenstand wie ein Telegraphenmast genau vor mir, würde ich wahrscheinlich hineinrennen, weil die Schallwellen im Winkel ankommen müssen, um für den Fernsinn wahrnehmbar zu sein. (S. 59 f.)

Später, am College und an der Universität, hat er zunächst Probleme, meist war er der erste blinde Schüler oder Student. Die Gebäude sind für ihn verwirrend angelegt, sodass er sich oft nicht zurechtfindet. Es gibt für ihn Zeiten der Einsamkeit, in denen er Mitleid begegnet, bzw. Menschen, die sich von ihm zurückziehen. Besonders leidet er darunter, keinen Kontakt zu Frauen zu haben. Er lädt z. B. eine Frau, die ihn über die Straße führt, zum Essen ein und ist fürchterlich enttäuscht, als sie nicht zur Verabredung kommt. Doch er findet immer wieder Freunde, die ihn ermutigen, Sport oder Musik mit ihnen zu machen. Dabei ist er sehr erfolgreich und hat auch keine Schwierigkeiten mit Frauen mehr. Er gleicht immer mehr seinem Vater, der sich viel prügelte und tagelang trank und schließlich die Mutter verließ, um zu seiner Freundin zu ziehen. Tom hat seinen Vater dafür gehasst und doch erscheint es ihm fast natürlich, dem Vater nachzuschlagen. Durch seine Freundin Patty ändert er seine Einstellung. Als er sie heiraten will, tauchen neue Probleme auf. Ihre Eltern stehen ihm skeptisch gegenüber, nicht wegen seines Lebenswandels, sondern weil er blind ist. Sie stimmen der Heirat aber doch zu, denn Patty war als Kind sehr krank und sie hatten sich damals geschworen, ihr nie Steine in den Weg zu legen. Tom will ihnen beweisen, dass er als blinder Mann keine Notlösung, kein Opfer, kein einzuhaltendes Versprechen ist, sondern ein genauso guter Ehemann wie ein sehender Mann. Auf Wunsch seiner Frau wird er Berufsmusiker, und von einigen Durststrecken abgesehen ist er dabei sehr erfolgreich.
Tom Sullivans Geschichte ist vom zweiten Kapitel an fast durchgehend chronologisch erzählt. Das erste Kapitel beginnt mit seiner Tochter und seinem Verhältnis zu ihr. Er erzählt, wie sie als Kleinkind in seinem Garten ins Schwimmbecken fiel, wie er durch das Becken schwamm, tauchte und sie verzweifelt suchte. In diesem Kapitel werden sein späteres Leben, seine Auseinandersetzung mit der Blindheit, die Hindernisse und Erfolge schon zusammengefasst und vorweggenommen. Am Ende des Buches zieht er noch einmal ein Resümee:

Ich fühlte mich wieder als kleiner Junge, der zum ersten Mal begreift, daß er sich mit einer Behinderung durchs Leben kämpfen muss, die von vielen als die härteste überhaupt angesehen wird. Ich hatte anderen, und wichtiger noch, mir selbst bewiesen, daß ich, wenn ich nur wollte, jederzeit im Wettkampf bestehen konnte und daß die wirklichen Belohnungen des Lebens im strebenden Bemühen liegen. Könnte es nicht sein, überlegte ich, daß diejenigen, die durch ihre Behinderung so hart gefordert werden, besondere Gnaden und die Chance erhalten, einen Schatz zu gewinnen, der Nichtbehinderten versagt bleibt. (letzte Seite)

(Vgl. Film: Ein Stern in meiner dunklen Nacht)

 

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