Vuilleumier, John F.: Der letzte Tunnel

Olten : Walter, 1970
185 S.
Roman

Paul Frankenbach ist Chemiearbeiter, sein Chef hält viel von ihm und will ihn fördern. Er sagt Paul eine gute berufliche Entwicklung voraus. Paul ist ehrgeizig, schon allein, weil er Marie-Louise, genannt Rilou, liebt. Rilou kommt aus einer reichen Familie und ihre Eltern lehnen einen Arbeiter als Schwiegersohn ab. Trotzdem möchte Rilou ihn heiraten, sie meint, sie würde sich notfalls über den Willen ihrer Eltern hinwegsetzen. Paul aber hofft, die Eltern mit einem beruflichen Aufstieg umstimmen zu können.
Dann erblindet er durch einen Chemieunfall. Sein Chef besucht ihn im Krankenhaus, tröstet ihn, macht ihm Hoffnung auf Heilung und setzt sich persönlich für eine optimale Behandlung ein.
Eine Zeitlang hofft Paul auf Heilung, der Assistenzarzt erzählt von neuen Behandlungsmöglichkeiten im Ausland.
Aber der Professor macht die Hoffnung zunichte und meint, er solle aus allem das Beste machen. Paul begreift, dass er blind bleiben wird.
Paul ist in dieser Situation fast allein auf sich gestellt, nur ein Bettnachbar ist sein Gesprächspartner. Er hat keine Angehörigen, sein Chef muss aus beruflichen Gründen in die USA und Rilou hat sich zurückgezogen. Schließlich kommt ein Brief von ihr. Paul hofft, darin eine Erklärung für ihre lange Abwesenheit zu finden, eine Urlaubsreise vielleicht. Aber zunächst einmal muss er warten, bis die Krankenschwester Zeit hat, den Brief vorzulesen. Er empfindet diese Abhängigkeit als quälend. Als die Schwester den Brief mit sachlich-nüchterner Stimme vorliest, werden seine letzten Illusionen zerstört. Marie-Louise will sich aus Vernunftgründen von ihm trennen. „Nicht die Explosion, dieser Brief zerstört viel, ist grausamer als die Explosion.“ (S. 84) Im Krankenhaus liegt Paul mit zwei anderen blinden Patienten in einem Zimmer. Der eine spricht nicht mit ihnen, der andere denkt sich zum Zeitvertreib Geschichten aus; eine davon erzählt er in Fortsetzungen. Es ist eine Geschichte über verschiedene Tote, die über ihr Leben und ihre verlorene Jugend berichten. Diese Geschichte, eine Sammlung von Einzelschicksalen, fesselt Paul. Er erkennt sich darin wieder, denn er fühlt sich auch um seine Jugend betrogen.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus kommt er in ein Blindenheim. Der Professor hält dies für eine gute Lösung.

Die Blinden verlieren den Mut nie, bleiben voll Heiterkeit. Die Taubstummen sind düster und voll Mißtrauen.
Abschiedsworte des Professors an Paul, als er nach dem Blindenheim gebracht wurde. Daß Paul eine einzige offene Wunde ist, die grausam schmerzt, wo man sie berührt, das merkt keiner. Auch der Professor nicht. (S. 101)

Im Blindenheim lernt Paul verschiedene Handwerkstechniken und Punktschrift kennen. Er lernt leicht, aber glücklich wird er nicht. Manchmal schmiedet er Pläne für sein Leben, will selbstständig außerhalb des Heimes sein.

Stundenlang jubelt es in ihm: Ich werde aus der Dunkelheit ausbrechen. Die frohe Erregung fällt zusammen. Eine unerbittliche Niedergeschlagenheit folgt. (S.104)

Paul wird jähzornig. Wird grob gegen die anderen. Bittere Tage. Paul zerstört, was ihm in die Finger gerät. Zerbricht, was er erwischen kann. Verletzt sich selbst dabei. Tobt. Stößt an Möbel, an Wände. Schreit. Brüllt. Sackt schließlich in einem Winkel zusammen und heult, hilflos, zerbrochen, heult, heult. (S. 105)

In der Zeit lernt er „die kleine Worb“ kennen. Sie heißt Marie Worb und ist blind geboren. Sie empfindet es als Privileg, nie gesehen zu haben.

„Meine Welt, die ich sehe, ist viel richtiger. Nicht durch den Augenspiegel vorgetäuscht. Ich erlebe die Welt mit anderen, viel feineren Sinnen. Nicht mit euern groben Augen. Ihr redet vom Weihnachtsbaum. Ich spüre die Wärme seiner Kerzen. Ich rieche den Duft der Tanne, des Konfekts, all des Geheimnisvollen, das zu Weihnachten gehört. In mir lebt eine große Weihnachtshelle, die viel heller sein muß als alles, was ihr mit euren Augen begreift. Ich selbst bin voll von dieser Helle.“ (S. 107)

Zwischen beiden entwickelt sich eine Freundschaft, die endet, als Marie Worb, eine erwachsene Frau, von einer fremden Familie, die einen blinden Menschen „adoptieren“ will, aus dem Blindenheim geholt wird.
Auch Paul wird abgeholt. Denise, eine ältere Frau, die in ihrem Leben schon viele Enttäuschungen erlebt hat, will als Hausiererin beginnen. Dazu braucht sie einen Partner und sie wendet sich an das Blindenheim. Sie empfehlen ihr Paul.

Es wäre eine gute Lösung, wenn Frankenbach mit jemandem zusammen hausieren gehen würde. Auch der Direktor sei dieser Ansicht. Frankenbach selbst? (S. 146)

Paul wird gefragt, er erhält zwei Tage Bedenkzeit. Etwas später zieht er bei ihr ein und verbindet viele Hoffnungen damit.

Ein neues Leben anfangen. Wir arbeiten beide gemeinsam für unseren Unterhalt. Bezahlen Steuern, sind Menschen wie die anderen. Ich will mich anstrengen wie ein anderer im Beruf. Es wird gehen. (S. 149)

Aus der Arbeitsbeziehung wird eine Liebesbeziehung. Paul ist vorübergehend glücklich, auch wenn er noch viel an Rilou denkt.
Bei der Arbeit muss er seine Blindheit gezielt einsetzen, zur Begrüßung sagen: „Ein Blinder, Madame, wenn Sie vielleicht...“ (S. 157). Das stört ihn und er merkt, dass er eben keine Arbeit macht wie andere. Viele wollen nicht kaufen, wimmeln ihn mit einer Spende ab. Er versucht den Kunden den Unterschied zwischen Betteln und Hausieren zu erklären, Denise versucht ihn daran zu hindern. Er spürt dann schmerzlich, wie weit er sich von seinen früheren beruflichen Ambitionen entfernt hat.
Paul wird wieder mutlos und mürrisch. Denise macht sich Sorgen. Auf einer Zugfahrt kommt es zu einer Krise. Die Leute unterhalten sich über sie. Sie sagen, dass Denise alt und hässlich sei und seine Mutter sein könnte. Bisher hatte Paul immer geglaubt, Denise sei jung und hübsch, so wie Rilou es war. Mit einem Mal wird ihm klar, wie wenig er von ihr weiß. Er fühlt sich betrogen und hat das Gefühl, seit seiner Erblindung ständig hinters Licht geführt worden zu sein. Von seinem Chef, der ihm Hoffnungen machte und nie wieder auftauchte, von der Medizin, die ihm nicht helfen konnte, und von dem Professor, der ihm riet, nicht den Kopf hängen zu lassen.
Jetzt will er sich nicht mehr hintergehen lassen und fragt Denise direkt, wie alt sie sei. Sie antwortet ausweichend, sagt, sie sei noch keine 50 Jahre alt. Das ist für Paul deutlich genug. Er sagt, er könne nicht mit einer Frau schlafen, die alt und verbraucht sei. Er fände es zum Erbrechen. Denise ist gekränkt, ihre Hoffnungen auf ein neues gutes Leben mit Paul sind mit einem Schlag zunichte gemacht worden. Paul wirft ihr in einem heftigen Streit vor, seine Blindheit und Ahnungslosigkeit bewusst ausgenutzt zu haben. Er versucht sie zu erwürgen, sie reißt sich los und sagt, er solle ihretwegen nicht auch noch zum Mörder werden. Stattdessen will sie während einer Tunnelfahrt aus dem Zug springen.
Da beginnt Paul umzudenken. Er schreit sie an, es nicht zu tun, und will die Notbremse ziehen. Er greift in die Luft und spürt seine Hilflosigkeit. Im Abteil sitzt noch ein einbeiniger Fahrgast, von dem Denise glaubte, er schliefe. Er hat aber alles mitverfolgt und kann sie von ihrem Vorhaben abhalten. Denise und Paul fahren gemeinsam nach Hause.
Dieses Erlebnis macht Paul nachdenklich. Am nächsten Morgen sitzt er im Zimmer und klagt leise. Denise hört ihm zu.
Sie reden miteinander und wollen es noch einmal miteinander versuchen. Damit endet der Roman.
Pauls Geschichte bildet den Rahmen für mehrere Geschichten. Im ersten Teil nehmen die ausgedachten Geschichten seines Zimmernachbarn einen breiten Raum ein, im zweiten Teil spielt Denise‘ Lebensgeschichte, ihre unglücklichen Männerbeziehungen und Schicksalsschläge eine große Rolle.
Allen Geschichten gemeinsam ist, dass sie von Menschen handeln, die Pech im Leben haben, deren Hoffnungen nicht erfüllt wurden und die sich in scheinbar ausweglosen Situationen befinden.
Das Buch ist 1970 erschienen und spielt in der Schweiz, vermutlich in den 1950er Jahren.

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