Wassermann, Charles: Die Nacht der hellen Stunden
Reinbek : Rowohlt, 1977
Erstveröffentlichung 1970
284 S.
Roman
Stanley Cattin arbeitet als amerikanischer Rundfunk- und Fernsehkorrespondent in einem sozialistischen Land. Durch eine Lebensmittelvergiftung, die zu Blutungen der Netzhaut führte, ist er fast völlig erblindet, er kann noch die Flamme seines Feuerzeuges sehen. Er übt noch seinen Beruf aus, unterstützt von seiner Frau Joanna und einer Sekretärin. Sein wichtigstes Hilfsmittel ist ein Tonbandgerät. Freunde und Kollegen wissen von seiner Blindheit, doch meist ist er bemüht, diese zu kaschieren. Er duldet auch nicht, wenn ihn jemand als blind bezeichnet. Seine größte Angst ist, dass sein Arbeitgeber, die Fernsehgesellschaft, darüber informiert werden könnte. Wenn die von seiner Blindheit erfahren, kann er nur noch Körbe flechten, sagt er immer wieder und lässt sich von dieser Meinung auch nicht abbringen. Freunde sind sogar der Meinung, dass seine Blindheit ihm ermöglicht, ein besonders guter Journalist zu sein.
„Dein Mann ist ein ausgezeichneter Beobachter. Je weniger er sieht, desto mehr spürt er.“ (S. 28)
Die Geschichte beginnt vier Jahre nach der Erblindung. Im Land haben sich Teile einer Reformbewegung durchgesetzt, viele Menschen machen sich große Hoffnungen. In der Zeit stellt Stanley eine neue Sekretärin ein, in die er sich nach kurzer Zeit verliebt. Christina ist das Gegenteil der fürsorglichen Joanna. Von Anfang an macht Christina Stanley klar, dass ihr nichts an einer festen Bindung liegt, dass sie kommt und geht, wann sie will und Stanley keinerlei Ansprüche hat. Sie will das Leben genießen, sonst nichts. Schon nach kurzer Zeit ist Stanley völlig von ihr abhängig. Er gebraucht ein Bild: Seine Blindheit empfindet er wie einen Kartoffelsack, Christina schneidet Löcher hinein. Joanna ist eifersüchtig, was Christina noch schürt. So trägt sie vor einem Treffen mit Stanley extra dick Lippenstift auf, um beim Küssen Lippenstiftspuren zu hinterlassen. Stanley, der diese Spuren nicht sieht, geht damit zu Joanna. Obwohl Joanna sich gedemütigt fühlt, bringt sie es nicht fertig, sich von ihm zu trennen. Sie liebt Stanley und fühlt sich für ihn verantwortlich, und Stanley erwartet auch, dass sie die Beziehung zu Christina toleriert und bei ihm bleibt.
„Sehen impliziert eine Freiheit, die der ...“, er zögerte und überwand sich, „der Blinde nicht hat. Er befindet sich in einer Verfassung, die sich mit einem endlos verlängerten Augenblick vor dem Ertrinken vergleichen läßt. Ich fordere kein Mitleid, sondern versuche nur, diesen Zustand des Schwebens zwischen Allem und Nichts zu definieren. Der Ertrinkende greift nach jedem Strohhalm, wie ungeeignet dieser auch sein mag. Der... Blinde tut das gleiche. (…)“
Joannas sachliches Hirn transportierte: „Und Christina Reif ist dein Strohhalm.“
„Ja. Damit will ich sie nicht zur Bedeutungslosigkeit degradieren.“
„Gott behüte.“ Joanna bereute den sarkastischen Ton. „Nein, ich glaube, ich verstehe dich.“
„Wenn du jetzt postulierst: Entweder ich oder sie, so stellst du mich vor unakzeptable Alternativen.“ (S. 211)
Am Ende verlässt Christina Stanley, sie bricht Hals über Kopf nach Griechenland auf. Auch Stanley muss das Land verlassen. Die Kommunisten haben die Macht wieder übernommen und Stanley des Landes verwiesen. In Wien trifft er sich mit einem Mitarbeiter seiner Fernsehgesellschaft und erfährt, dass sie über seine Blindheit informiert sind. Er wird aber nicht, wie er befürchtete, entlassen, sondern befördert.
Laut Klappentext ist Wassermann selbst durch eine Lebensmittelvergiftung erblindet.