Wästberg, Anna-Lena: Das Auge des Waldes

SKOGENS ÖGA, 1989
Kevelaer : Anrich, 1990
157 S.
Kinderroman

Max, ein Junge aus Stockholm, macht mit seinen Eltern Urlaub auf dem Land. Die Eltern haben sich einen verlassenen Einsiedlerhof gekauft. Zuerst gefällt es ihm dort gar nicht, bis er Arianne, ein gleichaltriges Mädchen kennenlernt. Arianne ist blind und lebt mit ihrer Großmutter in einem einsam gelegenen Waldhaus. Ihre Eltern kümmern sich nicht um sie. Arianne ist mit dem Wald sehr vertraut, sie kennt jeden Strauch und Stein und kann Max beim Wettlauf jederzeit abhängen. Auch sonst verblüfft sie ihn immer wieder mit ihren Fähigkeiten, sie kann z. B. zuverlässig Farben fühlen und spürt, woher eine Postkarte kommt.

„Großmutter schreibt sie. Mama schreibt uns nicht mehr, aber das will Großmutter nicht zugeben. Sie begreift nicht, daß ich den Unterschied spüre zwischen einer Postkarte, die über die Meere befördert wurde, und einer, die in Finnerödja gekauft wurde.“ (S. 62)

Max freundet sich mit Arianne an, obwohl sie ihn ständig ihre Überlegenheit fühlen lässt.
Gemeinsam stöbern sie einen Wilderer auf. Erst zerstören sie seine Fallen, später alles, was er gefangen hat. Arianne bestimmt das so und Max macht mit. Der Wilderer will Rache nehmen und sucht sie mit einem Gewehr in Ariannes Haus auf. Arianne schüttet ihm geistesgegenwärtig kochendes Wasser ins Gesicht und treibt ihn so in die Flucht.
Da Arianne gut handarbeiten und basteln kann, haben Max‘ Eltern die Idee, sie in Stockholm zu fördern. Arianne und ihre Großmutter sind damit einverstanden, zumal Arianne ansonsten weder zur Schule geht noch sonstige Pläne zur Berufsausbildung hat.

„Schule!“ sagte sie verächtlich. „Verbringst du deine Zeit noch mit Schule?“
„Du etwa nicht?“
„Nein, die können mir nichts mehr beibringen.“ (S. 20)

Arianne kommt nach Stockholm und lebt dort bei Max‘ Eltern. In der Stadt funktioniert nichts wie geplant, Arianne findet sich in der fremden Umgebung nicht zurecht.

Arianne war auch nicht mehr sicher zu Fuß, sie stolperte. Sie, die mit schlafwandlerischer Sicherheit allen Gefahren des Waldes auswich, war unvorbereitet auf die Hindernisse der Stadt. Papierkörbe, Reklamepfosten, parkende Fahrräder tauchten ohne Vorwarnung auf. Ihre hoch entwickelte Sensibilität funktionierte nicht zwischen all den hohen Steinhäusern. Sie wurde zu einem Menschen ohne Signale. Trotz der vielen Geräusche und Stimmen der Großstadt blieb ihre Welt stumm. Gegen Betonwände tasteten ihre empfindlichen Fingerspitzen vergeblich. (S. 134)

Sie bekommt keinen Platz an der Kunstschule, stattdessen meldet Max‘ Mutter sie an der Volkshochschule zu einem Töpferkurs an. In der ersten Stunde werden Dias gezeigt, Arianne will danach nie wieder hingehen. Noch weniger gefällt es ihr in der Beschäftigungstherapie des nahen Krankenhauses, in der die Mutter sie zuletzt unterbringt.
Max hat neben Schule und Sport kaum Zeit für Arianne. Seine Freunde, denen Max von Ariannes besonderen Fähigkeiten vorschwärmt, testen sie wie ein Zirkustier. Arianne merkt das, blockt ab und damit ist für alle klar: Die Kluft ist unüberbrückbar groß, Max‘ Stadtfreunde und Arianne können nichts miteinander anfangen.
Einmal laufen sie zusammen Schlittschuh, das macht zwar ausnahmsweise Arianne Spaß, ist aber für alle anderen gefährlich.

Sie legte sofort mit einem rücksichtslosen Tempo vor, als ob die Geschwindigkeit allein sie auf den Beinen halten würde. Mit Arianne als Motor begann eine schwindelerregende Fahrt.
Am Anfang versuchte Max, anderen friedlichen Schlittschuhfahrern auszuweichen, aber das war natürlich ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Leute fielen um wie die Kegel.
Wie eine rotierende Windhose fegten sie alles weg. Nach drei Runden auf dem Eis war kein einziger Schlittschuhfahrer mehr auf den Beinen, auch Max und Arianne nicht. (S. 120)

Max sagt ihr aber nicht, dass sie sich so auf dem Eis nicht verhalten darf. Stattdessen lotst er sie nur schnell vom Eis weg und lügt sie an, sagt ihr, dass man die Schlittschuhe nur für eine begrenzte Zeit mieten kann.
Arianne verkümmert in der Stadt wie die Tiere im Zoo, die Max‘ Eltern einmal mit Arianne besucht haben. Knapp einen Monat, nachdem sie in Stockholm ankam, verschwindet sie, ohne sich zu verabschieden. Sie hinterlässt Max nur ein Geheimzeichen aus zwei Stöckchen, das „Todesgefahr“ bedeutet. Arianne reagiert auch nicht, als Max ihr mehrere Kassettenbriefe schickt. Nach langem, sehnsüchtigem Warten erfährt Max schließlich, dass Arianne seine Familie damals verließ, weil ihr einziger Nachbar ihr mitteilte, dass das Haus ihrer Großmutter abgebrannt sei. Max kann das verstehen, so wie er auch akzeptieren kann, dass das Leben in der Stadt nicht gut für Arianne ist.

 

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