Weiß, Ernst: Der Augenzeuge
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982
Erstausgabe 1963
220 S.
Roman
Dieser Roman ist wie eine Autobiografie verfasst. Der Ich-Erzähler schildert seine Kindheit, die Ausbildung zum Arzt und sein Leben als politisch Verfolgter. Während seines Studiums verdient er sich seinen Unterhalt bei einem Nervenarzt, bei dem er als Sekretär arbeitete. So hat er schon viel Erfahrung mit psychisch Kranken, als er während des Ersten Weltkriegs im Lazarett traumatisierte Soldaten betreut. Dort lernt er den Gefreiten A. H. kennen, der unter Schlaflosigkeit leidet und blind ist und der nach eigenen Angaben durch eine Gelbkreuzgranate erblindet ist. Der Mann gilt als Fanatiker, der die Juden hasst und von Deutschland als einem starken, mächtigen Staat träumt. Nacht für Nacht hält er unter den Kriegsversehrten Vorträge, spaltet sie in Anhänger und Gegner.
Der Arzt und Ich-Erzähler, zweifelt immer wieder an der Blindheit, es heißt zum Beispiel: „Er war ja blind oder gab sich dafür aus.“ (S. 111) Deshalb vermutet der Arzt, dass es sich um psychische Blindheit handelt, und er hält dies für eine besonders schwere Form der Behinderung. Menschen mit einer organischen Erblindung lernen damit zu leben, Punktschrift zu lesen und zu arbeiten.
„Die echten Blinden sehen nach innen. (…) Oft gründen sie eine Familie und man ist überrascht von ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck.“ (S. 115)
Menschen mit hysterischer Blindheit gelingt es nach Einschätzung des Arztes nicht, sich mit der Blindheit zu arrangieren. Seine Erklärung dafür ist:
Auch H. hatte sich über sein Schicksal erhoben. Er wurde lieber blind, als daß er sich den Untergang Deutschlands ansah. (S. 116)
Der Arzt will ihm helfen, aber anders als die anderen Ärzte und Pfleger beschuldigt er ihn nicht der Simulation, sondern tut so, als nähme er die Augenverletzung sehr ernst, fast hoffnungslos, zumindest für normale Menschen.
„Es geschehen keine Wunder mehr“, sagte ich. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und antwortete nicht. „Aber“, setzte ich fort, „das gilt nur für den Durchschnittsmenschen. Es sind an auserwählten Menschen dennoch oft Wunder geschehen, es muß doch Wunder geben, vor denen die Natur sich beugt, glauben sie nicht?“ – „Wie Sie denken, Herr Stabsarzt“, sagte er heiser. (S. 118)
Die paradoxe Intervention funktioniert, A. H. kann wieder sehen und schlafen. Der Arzt hatte nach eigenen Angaben "Gott gespielt." (S. 119)
Nach dem Krieg arbeitet der Ich-Erzähler als Landarzt, viele seiner Freunde sind von Hitler begeistert, der Arzt versucht Distanz zu wahren.
Ich hatte keine Macht mehr über den Mann auf der Tribüne. Ich mußte mich glücklich schätzen, wenn er keine hatte über mich. Ich habe oft in der ersten Reihe gesessen, habe seinen Blick fesseln wollen. Es war unmöglich. Er sah nichts. (S. 154)