Wells, H. G.: Das Land der Blinden

THE COUNTRY OF THE BLIND, 1911
In: H. G. Wells: Das Kristall-Ei
Frankfurt am Main: Ullstein, 1981
S. 257–286
Erzählung

In einem von der Umwelt abgeschnittenen Seitental in Südamerika leben Menschen, die seit 15 Generationen durch eine rätselhafte Krankheit blind sind.
Nach einem Bergunfall gerät der sehende Nunez in diese Gesellschaft. Zuerst fällt ihm auf, dass die Wohnsiedlung zwar symmetrisch angelegt ist, die Häuser aber hässlich und fensterlos sind.

„Der Mann, der das gemacht hat, muß so blind gewesen sein wie eine Fledermaus“, dachte er. (S. 264)

Bei der ersten Begegnung mit den Bewohnern merkt er, dass alle blind sind. Er fühlt sich überlegen, glaubt an ihre Bewunderung und rechnet damit, ihr König zu werden. Das Gegenteil ist der Fall. Sie arbeiten, wenn es kühl ist, d. h. nachts, und da kann Nunez sich nicht so sicher bewegen wie sie. Auch kann er nicht so gut hören und riechen wie sie. (Sie können z. B. seinen Herzschlag hören.) Seine Schilderungen der Dinge, die er sieht, halten sie dagegen für den Ausdruck einer geistigen Verwirrtheit. Er versucht – erfolglos – sich mit Gewalt Geltung zu verschaffen, dann resigniert er und will sich der Welt der Blinden anpassen. Er verliebt sich in eine Frau, die für die blinden Männer nicht sehr attraktiv ist, da sie keine weichen Gesichtszüge hat. Obwohl die Frau ihn auch liebt, kommt eine Heirat nicht infrage, weil er als geistig nicht normal gilt. Ein Arzt glaubt die Lösung des Problems gefunden zu haben. Die Augen des Fremden sind größer und zucken, offenbar eine Überreizung des Gehirns. Der Arzt schlägt vor, den Fremden zu operieren und die Augen zu entfernen. Zuerst willigt Nunez ein, dann macht er sich kurz vor der Operation auf den mühseligen und lebensgefährlichen Weg in seine alte Welt.
Der Autor führt die Leser auf einen Zickzackkurs: Erst scheint es so, als sei der sehende Nunez den blinden Einwohnern überlegen, dann zeigt sich, dass in der auf Blindheit eingerichteten Welt der Sehende unterlegen ist, doch zuletzt sind es die blinden Menschen, die borniert wirken, weil sie allem Neuen gegenüber nicht aufgeschlossen sind. Die Blindheit ist auch hier nicht nur Mittel, eine fantastische Geschichte zu erzählen, sondern hat darüber hinaus symbolische Bedeutung. So heißt es im Nachwort:

Er ist vielmehr der Sehende unter denen, die nicht sehen, der offene Verstand unter Konformisten, ein freier Geist in einer bourgeoisen Welt. (Bernard Borgozoni, zitiert nach Franz Rottensteiner, S. 294)

 

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