Zweig, Stefan: Die unsichtbare Sammlung

in: Stefan Zweig: Verwirrung der Gefühle

Frankfurt am Main: Fischer, 1980
Ersterscheinung 1929
S. 189–201
Novelle

Ein Kunsthändler sucht einen früheren Kunden auf. Er hofft, günstig ein paar Stücke zurückkaufen zu können. Der Kunde, mittlerweile ein sehr alter, blinder Mann, ist glücklich, einen Kunstkenner als Gast zu haben. Stolz will er ihm seine Sammlung zeigen. Doch bevor der Händler sich die Sammlung ansehen kann, nimmt ihn die Tochter des alten Mannes zur Seite. Sie sagt, dass sie während der Inflation einen Großteil der Bilder verkaufen musste und es nicht übers Herz brachte, es dem Vater zu sagen. Statt der Bilder legte sie wertlose Blätter in die Passepartouts. Täglich nimmt der Vater die „Bilder“ aus dem Schrank und freut sich daran. Bisher hat er noch nichts gemerkt und die Tochter bittet den Händler, auch nichts zu sagen. Zuerst hat der Händler Schwierigkeiten, den blinden Mann so zu belügen, aber er merkt schnell, dass seine geheuchelte Anerkennung den alten Mann glücklich macht.

Was ich aber mitnahm, war mehr: Ich hatte wieder einmal reine Begeisterung lebendig spüren dürfen in dumpfer, freudloser Zeit, eine Art geistig durchleuchteter, ganz auf die Kunst gewandter Ekstase, wie sie unsere Menschen längst verlernt zu haben schienen. Und mir war – ich kann es nicht anders sagen – ehrfürchtig zumute, obgleich ich mich noch immer schämte, ohne eigentlich zu wissen, warum. (S. 201)

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