Vogel, Traugott: Der blinde Seher
Zürich : Grethlein, 1930
382 S.
Roman
Die Geschichte spielt in der Schweiz und handelt von der Familie Funker.
Alle Glieder der Funkerfamilie, mit einer einzigen beneideten Ausnahme, der Eugens, waren mit dem Stigma verdorbener Augen gezeichnet. Ob ein schleichendes chronisches Glaukom die Erkrankung verursachte, oder ob sie konstitutioneller ererbter Abnormität des Augapfels zuzuschreiben war, konnte deshalb nicht erkannt werden, weil der Vater jeglicher ärztlicher Behandlung Feind war, auf diese „Ignoranten im weißem Überhemd“ wetterte und nicht duldete, daß sich sein Fleisch und Blut den „Pöblern und Näslern“ auslieferte. (S. 29)
Der Vater herrscht tyrannisch über seine Familie. Er besitzt eine Druckerei und gibt eine Zeitung heraus, die das Sprachrohr einer neuen politischen Bewegung sein soll. Victor, sein jüngerer Sohn, arbeitet wie er in der Druckerei und engagiert sich auch für die Zeitung. Seine politische Meinung weicht jedoch von der des Vaters ab, und so kommt es zu einem schweren Zerwürfnis zwischen beiden. Victor leidet sehr darunter. Er ist zwar von seinen Ansichten überzeugt, aber er fühlt sich als Sohn dem Vater auch verpflichtet. Der Vater isoliert sich immer mehr, doch er will das ebenso wenig wahrhaben wie seine zunehmende Blindheit. Als ihm seine Leser, die Abonnentengemeinde, die Unterstützung entziehen, gibt er beleidigt die Druckerei und die Zeitung an seine Söhne ab. Er schließt sich Familie Flut an, da ihn auch seine bisher ergebene Frau verlassen hat. Dr. Flut war lange Zeit sein politischer Verbündeter, und für Frau Flut schwärmt Herr Funker schon lange, erst verdeckt, dann offen. Frau Flut weiß das und macht trotzdem mit ihm Urlaub. Nicht weil sie ihn liebt, sondern weil sie ihn von seiner Ich-Bezogenheit und Verbohrtheit heilen will. Zuerst zwingt sie ihn, seine mittlerweile fast vollständige Blindheit zuzugeben, indem sie ihm in vielen Alltagsdingen die Hilfe entzieht. Diese Kur und einige sich zuspitzende Ereignisse in der Familie verändern den Vater tatsächlich. Am Ende zieht er reumütig wieder zu seiner Ehefrau zurück.
„Aber ich kann es dir ja sagen: Nur ein Blinder kann den rechten Weg erkennen, weil er sich von Detailchen nicht vom Endziel ablenken läßt.“
„Dann bist Du ja gar nicht so sehr zu bedauern, Vater.“
„Ich könnte paradox sagen: Blindheit hat mir die Augen geöffnet.“ (S. 378)