Jousse, Hélène: Die Hände des Louis Braille

Originaltitel: LES MAINS DE LOUIS BRALLE
Leipzig : Faber und Faber 2020
245 S.
Biografischer Roman

Constance, dreiundvierzig Jahre alt, ist Autorin und seit einem Jahr verwitwet. Ihr Mann erblindete ein Jahr, bevor er starb, und weil er nicht wusste, dass er bald sterben würde, lernte er die Punktschrift. Constance versuchte, mit ihm zu lernen. So stieß sie auf Louis Braille und begann sich für sein Leben zu interessieren. Bei einem Mittagessen erzählt sie Thomas, ihrem Literaturagenten, von Braille, und der beschließt spontan, einen Film über Louis Braille zu machen. Constance soll das Drehbuch schreiben. Damit sie den straffen Zeitplan einhalten kann, stellt Thomas ihr noch einen Studenten an die Seite, der für sie recherchiert.
Im Laufe des Romans wechseln zwei Handlungsstränge ab:
Der eine Handlungsstrang beschreibt das Leben von Louis Braille, seine Erblindung und sein Leben im Internat bis zur Erfindung der Punktschrift. Diese romanartig erzählten Kapitel tragen Überschriften wie „Drehbuch Szene eins“, „Drehbuch Szene zwei“ usw.
Louis wird als Kind beschrieben, das sich schon optisch stark von anderen Kindern abhebt und die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen erregt.

Sie fragt sich, was sich hinter diesem zarten und leicht erstarrten Gesicht des Jungen mit den blonden Locken verbirgt, der ihr direkt gegenübersitzt. Sie beobachtet die starren und milchigen Augen, die aber unterschiedlich sind. Im rechten Auge ist ein azurblauer Strahl zu sehen. Ja, Louis hat blaue Augen. Heute ähneln sie zwei Mondsteinen. Man erkennt noch in der Trübung Fädchen von Durchsichtigkeit, Beweis, Spur und Erinnerung an eine Linse, die einst das Licht eingefangen hat. (S. 28)

Die Autorin hat auch eine Erklärung für das starre Gesicht.

Wenn man die Gesten der anderen nicht nachahmen kann, nicht die Art und Weise, wie sie sich verhalten, ihre Gangart, ihr Lächeln – ja, auch das Lächeln lernt man –, wie soll man da die Welt erobern? (S. 28)

Aber das wirklich Besondere an Louis ist seine Wissbegier, deshalb sorgen der Pfarrer und der Lehrer seiner Heimatgemeinde auch dafür, dass er einen Platz im Internat bekommt. In der Hoffnung, lesen zu lernen, erträgt Louis auch das Internatsleben, das ungemütlich und brutal ist. Die Schulleitung ist grausam zu den Kindern und auch der Umgang der blinden Jungen untereinander ist rau.
Aber Louis findet unter den Jungen einen Verbündeten, Gabriel, der ihm ein lebenslanger Freund wird. Um Gabriel vor einer harten Strafe zu bewahren, geht Louis freiwillig selbst zwei Tage in den Karzer.
Am meisten leidet er aber darunter, dass es kaum geeignete Bücher gibt, und die wenigen sind nur umständlich zu lesen. Deshalb ist es für ihn ein großes Glück, dass Hauptmann Barbier in das Institut kommt, um seine Nachtschrift vorzustellen. Louis erkennt schnell, dass das Punktesystem der Schlüssel für eine geeignete Tastschrift ist, merkt aber auch, dass die von Barbier erfundene Schrift noch zu umständlich ist. Barbier nimmt die Kritik eines elfjährigen Jungen nicht ernst, also tüfteln Braille und sein Freund allein weiter. Mittlerweile hat das Institut einen neuen Leiter, der Braille unterstützt. Auf einem Schulfest wird die Methode allen Eltern und Geldgebern des Instituts vorgestellt. Einem Jungen wird ein Text diktiert, er schreibt das Gehörte in Punktschrift und eine blinde Schülerin namens Marie, die während des Diktats abwesend ist, soll diesen Text vorlesen. Das Ergebnis löst bei den Schülern, Schülerinnen und Eltern Begeisterung aus.
Die letzte Szene gibt einen kurzen Ausblick auf seine Zeit als Lehrer und Organist sowie auf seine Erkrankung an Tuberkulose.
Der zweite Handlungsstrang beschreibt das Leben der Autorin Constance. Diese Kapitel, die sich mit den Drehbuchszenen abwechseln, tragen die Überschrift „Rotes Heft von Constance“. In diesen wird Constance‘ Leben während der Schreibarbeit beschrieben, ihre Probleme und Befindlichkeiten und ihre Entwicklung in dieser Zeit. Diese Teile des Romans nehmen etwa die Hälfte des Umfangs ein. Constance fühlt sich dem kleinen Louis sehr verbunden, und sie erinnert sich, während sie schreibt, an ihre eigene Kindheit mit einer psychisch labilen Mutter. Trotzdem ist sie sie sich nicht sicher, ihm nah genug zu sein, deshalb besucht sie eine spiritistische Sitzung, um mit dem toten Louis in Kontakt zu treten. Sie gibt sich distanziert, aber als „Louis“ ihr sagt, er habe ein Mädchen namens Marie geliebt, baut sie Marie in ihr Drehbuch ein. Marie ist das Mädchen, das bei der öffentlichen Präsentation der Punktschrift den Text vorliest. In Constance‘ Drehbuch verlässt das Mädchen gleich nach dem Schulfest das Institut, aber die Autorin lässt Louis von ihr träumen.
Constance rechtfertigt die spiritistische Sitzung vor ihrem Literaturagenten Thomas.

Das ist „mein Louis“, der an dem spiritistischen Abend mit mir gesprochen hat. Ich bin nicht verrückt. Ich höre nur dem zu, was ich alleine hören kann. Ich erfinde nichts. Ich erschaffe Leben neu. Der 1852 Verstorbene soll vor den Augen der Zuschauer des 21. Jahrhunderts wieder leben. Und ich bediene mich meiner Person dafür. (S. 162 f.)

„Ihren Louis“ verteidigt Constance während des Schreibprozesses auch vor Thomas, der sich wünscht, dass sie ihm auch ein paar menschliche Schwächen zukommen lässt. Das lehnt sie ab.

Hör auf, mich lächerlich zu machen. Sicher kann das Böse überall sein, auch bei uns, aber manchen bleibt es eher erspart. Und genau das interessiert mich bei Louis. Es ist dieses Übermaß an Gutem. Er hat ein überzogenes Wesen. Louis erträgt das Maßvolle nicht. Er ist ein Held, ein Anti-Held, wie du willst. Aber so ist er. (S. 132)

Im Laufe des Schreibprozesses verändert sich auch ihre Beziehung zu ihrem Agenten, am Ende ist Constance von ihm schwanger. Ihr Frauenarzt, der sich wundert, dass sie noch schwanger wurde, fragt sie, ob sie ein Kind adoptiert habe. Sie antwortet: „Ja, ich habe ein Kind adoptiert vor drei Monaten. Es heißt Louis. Es kommt von weit her.“ (S. 241)

Der verstorbene blinde Ehemann, der den Anlass für die Geschichte bildete, kommt im Verlauf des Romans nicht mehr vor.

(Vgl. Jakob Streit: Louis Braille. Ein Junge erfindet die Blindenschrift)

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