Eich, Günter: Blick auf Venedig
in: Günter Eich: Fünfzehn Hörspiele
Frankfurt : Suhrkamp, 1979
S. 161–200
Deutsche Ersterscheinung 1966
Hörspiel Printversion
Zwei blinde Männer und eine Frau leben zusammen in einer Wohnung in Venedig. Emilio ist Telefonist, Gaspara macht den Haushalt und Benedetto bettelt. Dabei philosophiert er, entwickelt Pläne, die viel Geld einbringen sollen, auf jeden Fall aber geeignet sind, sich die Zeit zu vertreiben. Seine Pläne sind:
- Die drei Blinden sollen den Touristen das Venedig der Gerüche und Geräusche zeigen. Dazu müssen sie einen geeigneten Werbekatalog entwerfen.
- Er will mit den beiden anderen an einer Sprachlehre schreiben, Worte und Redewendungen sollen auf Karteikarten geordnet werden. Benedetto kritisiert, dass die Sprache die Sprache der Sehenden ist, er will sich mit Ausdrücken wie „etwas einsehen“ etc. beschäftigen.
Emilio und Gaspara gehen auf seine Ideen ein, nehmen sie aber nicht ernst. Selbst Benedetto kann nicht sagen, ob er es ernst meint.
Emilio lässt sich die Augen operieren. Skeptisch meint er „blinder als blind kann ich nicht werden“. (S. 167) Die Operation gelingt tatsächlich. Er muss sich aber umstellen und nach und nach lernen, die Dinge, die er vom Tasten kennt, mit den Augen zu identifizieren. Die Freude am Sehen hält nicht lange vor, sein Arbeitsplatz wird ihm gekündigt. Ein Abkommen mit dem Blindenverein, sagt sein Chef, nur Blinde dürfen bei ihm als Telefonist arbeiten. Doch so sehr Emilio sich um eine neue Arbeitsstelle bemüht, er findet nichts, auch nicht in den Bereichen, die er gelernt hat, wie Körbe flechten, Maschine schreiben oder Telefongespräche vermitteln. Eine Zeitlang bettelt er wie Benedetto. Das bringt zwar Geld ein, aber er kann die Enge und Armseligkeit seiner alten Wohnung nicht mehr ertragen, die ihm nun das erste Mal bewusst werden. Deshalb zieht er zu seinem Vetter unter dem Vorwand, er habe eine Stelle in Sizilien. Nach drei Monaten ist er immer noch arbeitslos, aber er kann mit der Lüge nicht mehr leben. Er sucht Benedetto beim Betteln auf. Doch bevor er wieder in seine alte Wohnung zurückkehrt, schießt er sich eine Kugel in den Kopf. Er überlebt. Sein Vetter hat ihm inzwischen eine Stelle besorgt. Emilio kann die Stelle aber nicht annehmen, er ist wieder blind. Benedetto holt ihn aus dem Krankenhaus ab und sie planen die Entwicklung der neuen Sprache.