Erath, Vincent: Das blinde Spiel
Tübingen : Wunderlich, 1954
456 S.
Roman
Der Roman beginnt 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Florian Rainer stammt aus einer Schwarzwälder Bauernfamilie. Seine Mutter ist überzeugte Katholikin, einige ihrer Brüder sind katholische Geistliche. So soll auch Florian katholischer Pfarrer werden. Bereits mit elf Jahren wird er zu seinem Onkel Severin geschickt, der ihn auf seine spätere Ausbildung einstimmen soll. Später folgen verschiedene Schulen, die ihn auf das Theologiestudium vorbereiten. Das Studium bricht er nach einigen Semestern ab und damit bricht er auch mit seiner Familie, die ihm diesen Schritt nicht verzeiht.
Zuerst sind es Mitschüler, die neue Ideen ins Internat bringen. Sie machen Florian mit Nietzsches „Zarathustra“ bekannt und lehnen sich gegen die strenge Internatsordnung auf. Ihm kommen Zweifel, aber er fügt sich, bis er sich in Maria, verliebt. Sie ist die Pflegetochter seines Onkels Simon und sie kennen sich seit ihrer Kindheit. Das erste Mal treffen sie sich auf einer Familienfeier.
Das Mädchen mußte blind sein. Man merkte es an seinen tastenden Fingern, seinem vorsichtigen Gehen und der eigenartig starren Kopfhaltung. (S. 51)
Der erste Kontakt ist für Florian unerfreulich. Florian soll mit ihr spielen, der Onkel verlässt sie mit der Ermahnung, Florian solle ein Kavalier sein. Florian weiß nicht, was das heißt, denkt aber, er dürfe Maria nicht widersprechen und er sei für sie verantwortlich. Maria will auf einen Kirschbaum klettern und Florian versucht, sie daran zu hindern, was ihm nicht gelingt. Maria setzt sich gegen seine Bevormundung heftig zur Wehr.
Sie wehrte sich und zeigte die Zähne. „Laß mich! Du bist ein böser Kerl. Ich mag dich gar nicht. Du riechst abscheulich. Laß mich los!“ Ihr Gesicht verzerrte sich. Sie biß mich in die Hand. (S. 56)
Kaum taucht der Onkel auf, ist Maria wie umgewandelt und tut so, als hätten sie die ganze Zeit friedlich miteinander gespielt. Florian ist verwirrt, widerspricht ihr aber nicht.
Drei Jahre später treffen sie sich wieder, der Onkel bittet Florian, sich in den Ferien um sie zu kümmern. Florian übernimmt es, auch wenn er ihr Verhalten immer wieder befremdlich findet. Er findet sie kindlich und albern, mit etwa vierzehn Jahren hat sie noch ein mystisches Weltbild, vermenschlicht Tiere, Dinge, Winde, Landschaften. Im nächsten Moment tritt sie altklug auf, behandelt ihn, als sei er völlig dumm und unwissend. Mal verpetzt sie ihn beim Onkel, dann bittet sie ihn tränenreich, ihr nicht böse zu sein.
Der Onkel versucht, Florian ihr Verhalten zu erklären.
„Sieh mal, Florian, das ist Marias Welt. Sie erlebt die Außenwelt musikalisch, mit dem Gehör also, und die Winde tragen ihr die Töne zu. Sie hört die Bäume flüstern, tuscheln, rauschen, den Fluß donnern und schäumen, die Vögel singen und übersetzt mir nachher alles in Musik. Sie steht den Dingen viel näher als wir. Die Augen rücken alles weg von uns, machen die Erde starr, fast leblos.“ (S. 149 f.)„Vielleicht ist dir schon aufgefallen, sie schwatzt etwas viel und will auch, daß man viel mit ihr redet. Das kommt eben auch daher, daß sie nicht sieht. Sie muß immer etwas zum Hören haben. Entweder hört sie sich oder andere. Schweigen dagegen ist für sie etwas Unheimliches. Auch große Worte liebt sie oft nur des Klanges wegen.“ (S. 151)
In den folgenden Jahren haben sie nur sporadisch Kontakt. Als die ersten Radios aufkommen und ein Mitschüler sich einen solchen Apparat nachbaut, kommt Florian der Gedanke, dass diese Erfindung gerade für Blinde sehr wichtig sein müsste. In mühevoller Kleinarbeit besorgt er sich in Zeiten der Inflation die einzelnen Bauteile und konstruiert ein Radio, das er ihr schenken will. Die Arbeit dauert fast ein Jahr. Aber an dem Tag, als er es ihr übergeben will, ist Maria wieder ungnädig gestimmt und sie ist enttäuscht, weil nicht ihre Lieblingsmusik gespielt wird und der Empfang schlecht ist. Wütend schlägt sie die Anlage entzwei. Florian ist frustiert, nimmt es ihr aber nicht übel. Florian macht sein Abitur und nimmt – wie von seiner Familie gewünscht – ein Theologiestudium auf. Dann wendet sich der Onkel wieder an ihn, denn Maria wird depressiv. Wieder kommt Florian, um Maria zu helfen, doch diesmal wird aus der Kinderfreundschaft Liebe.
Er verspricht ihr, das Studium abzubrechen und sie zu heiraten. Seine Familie reagiert entsetzt, Florian kommen Zweifel und auch Maria ändert ihre Meinung, sie will die Ehe nicht mehr. In langen Briefen an Florian bittet sie ihn, doch Pfarrer zu werden, schreibt von ihrer Todessehnsucht, aber auch, wie wichtig ihr die Freundschaft war.
„Was bleibt mir noch übrig, als Dir zu danken. Ich danke Dir für Deine Liebe, ich danke Dir für das, was ich Dir sein durfte, Deine Schwester, Braut, Frau und alles in einem. Erst durch Dich habe ich habe ich mich kennengelernt, und in Deinen Armen war ich ein ganzer Mensch. Du nahmst die Binde von meinen Augen, daß mir die Nacht der Blindheit wie ein süßes Geschenk erschien und mir leuchtete im Glück, wie keine Sonne leuchten kann. (S. 436)
Etwas später stirbt Maria, sie wird von einem Zug überfahren und es bleibt unklar, ob es Unfall oder Suizid war.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Florians Entwicklung. Die blinde Maria taucht in dem 450 Seiten umfassenden Romans nur ab und zu auf, spielt aber am Ende eine tragende Rolle.
Blindheit ist, wie bereits der Titel vermuten lässt, auch im übertragenen Sinn Thema. Marias Bruder sagt nach ihrem Tod:
„Wohin kommen wir schon mit allem Hätte und Wäre? Wenn wir nach Schuld fragen, wo wollen wir anfangen? (…)
Ich grabe nicht mehr, alles ist Schicksal, ein raffiniert ausgeklügeltes Spiel, für uns Menschen ein blindes Spiel, weil wir nicht weiter als eine Nasenlänge in die Zukunft sehen.“ (S. 445)