Gorman, Jaquelin: Das Sehglas meines Bruders

THE SEEING GLASS, 1997
Bergisch-Gladbach : Bastei-Lübbe 2000
317 S.
Autobiografischer Roman

Jackie Gorman ist Mitte 30, erfolgreiche Anwältin und Mutter einer vierjährigen Tochter. Eines Morgens wacht sie auf und stellt fest, dass ein Auge blutet. Sie glaubt, dass ihr Hund, der bei ihr im Bett schläft, sie vielleicht gekratzt hat, und fährt zum Arzt, um die Wunde versorgen zu lassen. Schon auf der Fahrt übersieht sie eine rote Ampel, denkt sich aber nichts dabei. Der Arzt diagnostiziert eine Augenentzündung, die damit beginnt, dass sie keine Rottöne sieht und mit der Erblindung des Auges endet. Normalerweise sei nur ein Auge davon betroffen. Doch sie ist ein Sonderfall: Schon nach kurzer Zeit entzündet sich auch das andere Auge und sie erblindet quasi über Nacht.
Ihr Mann will sie morgens zum Frühstück holen, sie weigert sich, aufzustehen.

„Gibt es irgendetwas, wofür sich das Aufwachen lohnt?“, schreie ich zurück.
„So etwas darfst du nicht sagen.“
„Kenny, ich bin gerade aus meinem eigenen Bett gefallen! So kann ich doch nicht weitermachen. Ich werde so lange im Bett bleiben, bis ich genug sehe, um nicht herauszufallen.“ (S. 169)

Es ist schrecklich für sie, sich von ihrem Mann helfen zu lassen; sie will nicht, dass er sie zur Toilette begleitet. Auch möchte sie so nicht ihrer kleinen Tochter gegenübertreten. Ihr Mann schafft es ebenfalls nicht, der Tochter von der Erblindung zu erzählen. Sie sagen ihr, Jackie habe Kopfschmerzen.
Sie klammert sich an die Hoffnung, dass die Blindheit nur vorübergehend sein wird. Während sie sich in ihr Bett zurückzieht, spricht ihr Mann mit dem Arzt. Dieser macht ihr Hoffnung, dass die Sehfähigkeit in acht bis zehn Wochen zurückkehrt. Sie freut sich, ein konkretes Datum zu haben, und lässt alle Tage bis dahin auf einem Kalender abstreichen. „(…) wie die Gefängnisinsassen in den alten Filmen“ (S. 176)
Jackie verlässt in dieser Zeit nicht das Haus, schon gar nicht bei Tageslicht, und sucht ihre Tochter nur auf, wenn diese schläft. Die Tochter hätte aber lieber eine Mutter, die mit ihr redet und spielt.
Die Zeit vergeht, ohne dass sich die Sehfähigkeit wieder einstellt. Jackie bittet den Arzt, ihr Bescheid zu sagen, sollte die Blindheit von Dauer sein. Denn dann will sie lernen, damit umzugehen.

„Ich will wissen, wann es Zeit ist, Blindenschrift zu lernen, die Busfahrpläne auswendig zu können, einen Blindenhund zu beantragen, alle diese Dinge eben.“ (S. 221)

Doch so weit kommt es nicht. Als die acht bis zehn Wochen vorbei sind, fordert der Arzt Jackie auf, immer auf Blautöne zu achten. Die ganze Familie trägt nun blaue Kleidung, und langsam erkennt sie erste Schatten. Nach einem Jahr ist die Sehfähigkeit vollständig hergestellt.
Die Geschichte dieser vorübergehenden Erblindung nimmt nur einen kleinen Teil des Buches ein. Der größere besteht aus Rückblenden. Während Jackie sich blind in ihr Schlafzimmer zurückzieht, denkt sie über ihre Kindheit und ihren Bruder Robin nach. Robin war autistisch und besuchte eine Sondereinrichtung, wo er schlecht behandelt wurde, was niemand in der Familie sehen wollte. Später starb er bei einem Unfall. In der Zeit ihrer Blindheit „sieht“ sie alles wieder neu und setzt sich mit ihrer Familie auseinander, die nie Unangenehmes „sehen“ wollte.
In den Sachen ihres Bruders findet sie eine bernsteinfarbene Glasscherbe, durch die er Krebse beobachtet hat. Sie hält sie sich vor die Augen und stellt fest, dass sie damit besser sehen kann. Ein Optiker bestätigt ihr, dass man seit einigen Jahren bei verschiedenen Sehproblemen mit gelbem Glas experimentiert.
Das Buch erschien in der Reihe „Erfahrungen“, soll also autobiografisch sein.

 

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