Zeugen, Zeuginnen und Ermittler
In den 1950er Jahren wurden einige Geschichten veröffentlicht, in denen blinde Menschen als Zeugen eine zentrale Rolle bei der Verbrechensbekämpfung spielen.
In einem 1953 in den USA erstmals erschienenen Krimi ist es ein blinder Verkäufer, der nur kurz auftaucht, aber mit seiner präzisen Aussage die Polizei auf die richtige Spur bringt. (MacDonald, Ross: Triff mich in der Leichenhalle, 1980)
Dabei können die blinden Protagonisten und Protagonistinnen aber auch eine größere Rolle spielen. In einer Geschichte stellt die blinde Frau einem Verbrecher eine Falle, um ihn abtasten zu können; in einem anderen Fall ermittelt der blinde Mann auf eigene Faust, als er merkt, dass ihn die Polizei nicht ernst nimmt. In diesen frühen Zeugengeschichten ergreifen die blinden Personen die Initiative, um sich für das Recht einzusetzen.
Erst seit den 1980er Jahren kamen blinde Zeugen und Zeuginnen in Mode und lösten nach und nach die Heilungsgeschichten als bevorzugtes Thema ab.
Fast die Hälfte der Geschichten beginnt allerdings damit, dass die Polizei erst sehr skeptisch, manchmal sogar verärgert auf die Nachricht reagiert, dass es eine blinde Zeugin oder einen blinden Zeugen gibt. Oder die Polizei nimmt die Anzeige eines blinden Menschen nicht ernst. Die Polizei ist sich sicher, dass ein blinder Mensch ja doch nichts gesehen hat und deshalb nach der Logik der ermittelnden Beamten keine brauchbare Aussage machen kann. Deshalb gilt es zunächst als Zeitverschwendung, sich mit der Aussage einer blinden Person zu beschäftigen.
Das Publikum erkennt im Gegensatz zu der ermittelnden Polizei sehr schnell, dass deren Misstrauen unberechtigt ist.
So wissen z. B. die Zuschauer und Zuschauerinnen, dass die blinde Frau als Leiterin einer Personalabteilung in ihrer Wahrnehmung der Umwelt ihrem sehenden Mitarbeiter keinesfalls unterlegen ist und dass sie alle Schwierigkeiten meistern kann. (Blinde Zeugin, USA 1989)
Eine andere Möglichkeit ist, dass das Publikum – anders als die Polizei – zumindest einen Teil des Tathergangs kennt und die Aussagen bestätigen kann. (Die einzige Zeugin, Deutschland 1995)
Im Laufe der Geschichte wendet sich das Blatt, die blinden Zeugen und Zeuginnen überzeugen. Manchmal ist es eine Person, die dem blinden Zeugen glaubt.
Das kann z. B. ein männlicher Polizist sein, der von einer blinden Frau sehr beeindruckt ist, oder eine junge Polizistin, die noch neu ist und unvoreingenommener an die Fälle herangeht.
Manchmal verblüffen die blinden Zeuginnen die Polizei, nämlich dann, wenn sie im Erst- oder Zweitkontakt viel über den Polizisten selbst sagen können, z. B. welches Rasierwasser er benutzt oder ob er einen Ehering trägt.
Manchmal ist es auch nur die schlüssige Zeugenaussage, die das Misstrauen schwinden lässt.
Das löst Erstaunen aus, das hätte man von einer blinden Person nicht erwartet, das Misstrauen verschwindet nicht nur, sondern schlägt in Bewunderung um.
Eine andere Möglichkeit ist, dass sich der blinde Zeuge oder die blinde Zeugin an einen Privatdetektiv (oder eine Journalistin) wendet. Dies ist z. B. bei Serien der Fall, in denen Privatdetektive die Serienhelden sind. Auch in diesen Geschichten müssen die blinden Menschen Überzeugungsarbeit leisten, am Ende wird aber mit ihrer Hilfe der Fall gelöst, den die Polizei nicht ernst genommen hat.
In einer Geschichte geht die Polizei aber den anderen Weg, sie wendet sich gezielt an einen blinden Mann, weil sie auf sein besser geschultes Gehör vertraut. (Fräulein Smillas Gespür für den Schnee, Dänemark 1997)
Aber gleichgültig ob ihnen die Polizei gleich vertraute oder erst im Laufe der Geschichte beeindruckt wird, die blinden Zeugen und Zeuginnen leisten gerade dort ihren Beitrag, wo sehende Mitmenschen wahrscheinlich wichtige Details nicht bemerkt hätten. Ihre besonderen Stärken sind:
- Sie haben einem Gespräch gelauscht, dessen Gegenstand ein Verbrechen ist.
- Sie können ein Video oder eine Tonbandaufnahme besser verstehen als sehende Menschen
- Sie erkennen Gerüche
- Sie identifizieren Autogeräusche, wenn z.B. ein Motor defekt ist
- Sie identifizieren Stimmen, können den Akzente oder auch Stimmungen erkennen
- Sie ziehen haben eine gute Kombinationsgabe und ziehen aus Kampfgeräuschen die richtigen Schlüsse.
- Sie ertasten den Täter, z. B. indem sie einen Schwächeanfall vortäuschen oder vorgeben, mit dem Täter Zärtlichkeiten austauschen zu wollen oder einfach nur die ungewollte körperliche Nähe ausnutzen.
- Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche.
Sehr eng mit der Zeugenrolle verwandt ist die Rolle der blinden Detektive. Die Übergänge sind fließend, da einige der Zeugen oder Zeuginnen sich selbst aktiv in die Ermittlungsarbeit einbringen, z. B. wenn die Polizei sie nicht ernst nimmt und sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollen.
In fast allen Geschichten bringt die Zeugenaussage die blinden Menschen aber auch in eine große Gefahr, denn nicht nur die Polizei begreift, dass ihre Beobachtungen besonders wertvoll sind, die kriminellen Personen machen eine vergleichbare Entwicklung durch. Auch sie unterschätzen zunächst die blinden Zeugen und Zeuginnen, bis sie merken, wie gefährlich sie ihnen werden können. Sie sehen dann meist nur eine Möglichkeit, sie wollen die blinde Person ausschalten, und es kommt meist zu einem echten Kampf ums Überleben. Dabei müssen die blinden Zeugen zeigen, was sie wirklich können. (vgl. Opfer)
Außer den blinden Menschen, die nur durch Zufall und nur einmal in ihrem Leben in die Aufklärung eines Verbrechens involviert sind, gibt es auch professionelle Ermittler und Ermittlerinnen, einer der ältesten ist die Figur Max Carrados. Diese Geschichte wurde 1914 veröffentlicht und 1930 ins Deutsche übersetzt und mehrfach neu aufgelegt. (Bramah, Ernest: Max Carrados, der blinde Detektiv, 1973)
Anfang der 1940er Jahre erschienen zwei weitere Detektive in der Buch- und Filmlandschaft. Einer der Autoren, Baynard Kendrick, arbeitete als Ausbilder für kriegsblinde Männer.
Von sehr seltenen Fällen abgesehen, gab es in den nächsten Jahrzehnten aber kaum blinde Detektive. Erst in den 1990er Jahren taucht das Thema öfter auf, es gab die erste Serie.
Seit den 2000er Jahren gingen blinde Ermittler dann gleich mehrfach in Serie.
Auch bei den Detektivgeschichten gibt es ein Grundmuster. Ein Polizist erblindet und will seinen Beruf nicht aufgeben. Allerdings braucht er Partner. Am einfachsten ist es, wenn er sich selbstständig macht und als Privatdetektiv auf eigene Faust ermittelt. Dann egagiert er eine bezahlte Assistentin oder arbeitet mit einem guten Fraund zusammen.
Die erblindeten Polizisten können auch darauf bestehen, an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Wenigstens einmal noch möchte ein erblindeter Polizist einen Fall lösen, einfach um sich selbst von seinen Fähigkeiten zu überzeugen.
„Ich wollte noch wissen, ob ich zu irgendetwas zu gebrauchen bin.“ (Das Ziel im Dunkel, Frankreich 1993)
Er löst den Fall mithilfe seiner Kollegen und kann sich danach zufrieden von der Polizeiarbeit zurückziehen.
In einer der wenigen Geschichten, in denen der Polizist nicht vollständig blind ist, verschweigt er seine zunehmenden Sehstörungen. Nur eine Kollegin kommt hinter sein Geheimnis, aber sie unterstützt ihn. Auch hier hilft ihm die Lösung des Falls, sich mit seiner Erblindung auseinanderzusetzen. (Second Sight - Das Auge des Gesetzes: Kain und Abel, England 1998)
Mit „Blind Justice“ widmet sich eine ganze Serie der Frage, wie wie es aussehen könnte, wenn die Rückkehr in den Polizeiberuf Alltag wird und der blinde Polizist gleichberechtiger Kollege wird.
In der „Jenny Aaron“-Reihe“ funktioniert das praktisch reibungslos, weil die erblindete Kollegin, die schon vor der Erblindung extrem leistungsstark war, ihre Blindheit so vollkommen kompensiert, dass es kaum nennenswerte Barrieren für sie gibt. (Pflüger, Andreas: Endgültig, 2016)
Dazu kommen die Krimi-Serien, deren sehender Held in jeder Folge einen Fall löst und in einer dieser Folgen vorübergehend erblindet. Er kann dann beweisen, dass er so genial ist, dass auch eine Neuerblindung ihn nicht ernsthaft einschränken kann.
Die Geschichten um erblindete Ermittler und Ermittlerinnen haben viele Gemeinsamkeiten mit den Zeugengeschichten. Die blinde Person löst erst einmal Erstaunen aus, weil es sich um ein scheinbares Paradox handelt (wer nichts sieht, hat den größten Durchblick), und diese Paradox und seine Auflösung sind manchmal spannender als der Kriminalfall selbst.